In den amerikanischen Guidelines für die Diagnose und das Management von Patienten mit thorakaler Aortenerkrankung aus dem Jahr 2010 [1] werden Patienten mit bikuspider Aortenklappe den Patienten mit Marfan-Syndrom oder anderen genetischen Erkrankungen hinsichtlich der Operationsindikation quasi gleichgestellt. Das heißt, dass Operationen schon bei einem Diameter deutlich unter 5 cm indiziert sein können. Dagegen empfehlen die Leitlinien der European Society of Cardiology (ESC), publiziert 2014, dass im Fall einer bikuspiden Aortenklappe die Operation an der aszendierenden Aorta bei einem Durchmesser von 55 mm indiziert ist. Bei Vorliegen von zusätzlichen Risikofaktoren kann schon ab 5 cm operiert werden, bei Indikation zum Klappenersatz kann bei gleichzeitiger Erweiterung von über 45 mm die aszendierende Aorta ersetzt werden [2].

Aktuelle Anpassungen und Erkenntnisse

Hochaktuell wurde im April 2016 eine „Guidelines clarification: Aorta“ von Hiratzka et al. publiziert, um Unklarheiten und Widersprüche zwischen den amerikanischen Leitlinien aufzuklären. Hier wird nun die Indikation wie in den ESC Guidelines ab einem Aneurysmadurchmesser von 5,5 cm bei bikuspider Klappe gestellt. Auch in den anderen Punkten passt sich diese Publikation den Empfehlungen der ESC an [3]. Offensichtlich sind die Verfasser der Leitlinien hinsichtlich der Operationsindikation für die kombinierte Entität von bikuspider Aortenklappe und Aortenaneurysma zurückgerudert. Die Operationsindikation wird nun später gestellt. Was ist der Grund dafür und macht das Sinn?

Augenscheinlich beeindruckt durch die Forschungsergebnisse hinsichtlich einer möglichen genetischen Disposition und der Entwicklung einer bikuspiden Aortenklappe mit Aneurysmabildung in den späten 1990er Jahren, die insbesondere aus dem Texas Heart Institut angeschoben wurden, fühlten sich die Verfasser der 2010er Leitlinie bemüßigt, die bikuspide Aortenklappenerkrankung als genetische Erkrankung einzustufen.

Daher die Empfehlung, diese Patienten schon frühzeitiger zu operieren. Die in der letzten Dekade erbrachten wissenschaftlichen Ergebnisse konnten dieses Vorgehen jedoch nicht rechtfertigen. Es zeigte sich, dass bei Vorliegen einer bikuspiden Aortenklappe nur ein geringer Protzentsatz der Patienten tatsächlich eine verdächtige Mutation aufweist. Auch zeigten weitere klinische Untersuchungen, dass nicht nur die Genetik, sondern offensichtlich auch das Jet-Phänomen, nämlich die Art und Weise des Austritts des Blutstroms aus der Aortenklappe und des „Aufpralls“ auf die Aortenwand, eine maßgebliche Rolle bei der Entwicklung des Aneurysmas spielt. Ferner konnten mehrere Studien nachweisen, dass der Phänotyp des Aneurysmas bei bikuspider Klappe einen entscheidenden Faktor darstellt: Der „Root“-Phänotyp ist offensichtlich mit einer wesentlich schnelleren Progression der Dilatation verbunden als der am häufigsten beobachtete suprakommissurale Aneurysmatyp. Des Weiteren fand sich kein wissenschaftlicher Beweis dafür, dass die Aorten von Patienten mit Aortenaneurysma und bikuspider Aortenklappe tatsächlich bei einem kleineren Durchmesser dissezieren als die Aorten von Patienten mit trikuspid angelegter Aortenklappe. Allein die Beobachtung, dass Patienten mit bikuspider Aortenklappe ein schnelleres Aneurysmawachstum zeigten, beweist nicht die frühere Neigung zur Dissektion.

Offensichtlich muss auch jeder Patient mit bikuspider Aortenklappe und Aneurysma individuell beurteilt werden. Dabei sind folgende Faktoren maßgeblich:

  1. 1.

    Phänotyp des Aneurysmas,

  2. 2.

    vorliegender Genotyp,

  3. 3.

    Flusseigenschaften des Blut-Jet.

Weitere Faktoren wie familiäre Disposition, Geschlecht, Alter, messbare Aortensteifheit, die Pulswellengeschwindigkeit und andere könnten helfen, ein individuelles Risikoprofil für jeden Patienten zu erstellen. Das Problem ist jedoch derzeit, dass mit den erhobenen Daten noch kein wirklich aussagefähiges Risikoprofil erhoben werden kann. Damit stecken wir in dem Dilemma, dass wir dann doch wieder auf den Durchmesser des Aneurysmas zurückgreifen müssen, solange keine anderen belastbaren Daten vorliegen.

Ausgrenzung durch zu späte Indikationsstellung

Hier kommen wir zum Kernproblem der Indikationsstellung: Sowohl die europäischen als auch die amerikanischen Leitlinien stellen die Indiktion zum Ersatz der aszendierenden Aorta sowohl für bikuspide als auch trikuspide Klappen sehr spät. Die wissenschaftliche Grundlage dieser Empfehlung ist außerordentlich dünn. Zahlreiche Publikationen konnten zeigen, dass die Aorten von mehr als 50 % der Patienten, die eine akute Aortendissektion entwickelten, schon bei einem aortalen Durchmesser unter 5,5 cm dissezierten. Damit grenzen die vorliegenden Leitlinien die Hälfte aller Patienten vor einer prophylaktischen, suffizienten Therapie aus.

Heute kann in spezialisierten Zentren der elektive kombinierte Ersatz von Aortenklappe und aszendierender Aorta bzw. der klappenerhaltende Ersatz der aszendierenden Aorta mit einer Sterblichkeit von etwa 1 % durchgeführt werden. Mit dem Rückgang des Operationsrisikos kann man berechtigterweise die Indikation zum prophylaktischen Aortenersatz frühzeitiger stellen, um die Tragödie einer akuten Aortendissektion abzuwenden. Demzufolge sollten Patienten, die sich in spezialisierten Zentren mit großer Erfahrung vorstellen, aus meiner Sicht ab einer Aneurysmaweite von 5 cm operiert werden. Bei vorliegenden Risikofaktoren, nachgewiesenen genetischen Belastungen, „Root“-Phänotyp bei bikuspider Aortenklappe sowie individuellen Faktoren kann in enger Absprache mit dem Patienten die Indikation auch deutlich früher gestellt werden.

Wie auch beim Marfan-Syndrom muss das Dissektionsrisiko für Patienten mit bikuspider Aortenklappe und Aneurysma der Aorta ascendens individuell eingeschätzt werden. Die aktuellen Leitlinien können dabei nur einen Empfehlungsrahmen bieten, aber keine verbindlichen Handlungsanweisungen. Wenn der die Indikation stellende Operateur persönlich spezialisiert ist auf Aortenchirurgie und eine entsprechend niedrige perioperative Sterblichkeit nachweisen kann, sollten Aneurysmen der aszendierenden Aorta bei Patienten nicht nur mit bikuspider Aortenklappe spätestens ab einem Durchmesser von 5 cm operiert werden.