Versorgungsforschung ist ein dynamischer Prozess. Beständig wird der Ist-Zustand der Gesundheitsversorgung analysiert und in den Kontext gestellt, Schwachstellen werden identifiziert und Programme entwickelt, um eine kontinuierliche Verbesserung einer angemessenen, hochqualitativen und patientenorientierten Versorgung zu erreichen. In den 1990er-Jahren war die rheumatologische Versorgung noch geprägt von einer medikamentösen Therapie mit konventionellen „disease-modifying antirheumatic drugs“ (DMARDs), die zwar bei vielen Patienten ausreichend wirkte, aber auch nebenwirkungsreich und bei ca. 30–50 % der Patienten nicht in der Lage war, die Entzündungsaktivität ausreichend zu unterdrücken. Die ersten Biologikatherapien ermöglichten in den 2000ern erstmals, bei einem relevanten Anteil an Patienten eine Remission zu erreichen und zu erhalten. Die weitere Entwicklung einer Vielzahl hochwirksamer Wirkstoffe führte in den 2010ern zu einem fast exponentiellen Anstieg an Möglichkeiten der antiinflammatorisch rheumatischen Therapie. Aufgrund dieser Veränderungen im Therapiespektrum können wir im Jahr 2020 zumindest einen Großteil der Patienten mit rheumatischen Erkrankungen so versorgen, dass sie ein Leben ohne relevante Funktionseinschränkungen oder Organschäden und ohne große Einschränkungen der Lebensqualität führen können. Gesundheitsversorgung hat hierzulande den Anspruch, allen Menschen Zugang zu einer bestmöglichen medizinischen Versorgung zu verschaffen. Dieser Anspruch beinhaltet auch, dass neue Therapieverfahren und Versorgungskonzepte den Patientinnen und Patienten unabhängig von ihrem Geschlecht, Alter, Wohnort, Einkommen und ihrer Schulbildung rasch und flächendeckend zugänglich gemacht werden. Daraus ergibt sich der Auftrag für die rheumatologische Versorgungsforschung zu überprüfen, ob dies uneingeschränkt gelingt oder an welchen Stellen wir diesem Auftrag noch nicht ausreichend nachkommen.

Status quo

Relativ jung, aber zunehmend im Fokus ist in der Versorgungsforschung die Nutzung von Krankenkassendaten, die im Vergleich zu rheumatologischen Kohortenstudien oder Registern den Vorteil haben, bevölkerungsbezogene Daten ohne Einschränkung auf eine rheumatologische Versorgung zur Verfügung zu stellen. Die größten Limitationen von Kassendaten sind die fehlende klinische Diagnosevalidierung und fehlende Angaben zu Krankheitsaktivität bzw. Schweregrad. Letztere lassen sich lediglich durch indirekte Angaben wie medikamentöse Verordnungen oder Hospitalisierungen abschätzen. Im Verbundprojekt PROCLAIR, das 2015 bis 2018 im Rahmen des Forschungsnetzes „Muskuloskeletale Erkrankungen“ vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert worden war, wurden Kassendaten mit einer Befragung von Versicherten mit rheumatoider Arthritis (RA), ankylosierender Spondylitis bzw. Arthrosen verknüpft, um diesen Limitationen zu begegnen und um die genannten Ebenen der Versorgung für verschiedene Alters- und Versorgungsgruppen innerhalb der Bevölkerung zu untersuchen. Es zeigte sich u. a. eine geringere Erreichbarkeit der Versorgungsleistungen bei Patienten ohne Facharztbetreuung, bei älteren Menschen, bei Pflegebedürftigkeit und in Abhängigkeit von Geschlecht und Antikörperstatus [1]. Diese Ergebnisse spiegeln die Versorgung auf Bevölkerungsebene wider und zeigen Versorgungsdisparitäten auf, die in der Kerndokumentation nicht erfasst werden und sich durch diese auch nicht untersuchen lassen. Im Gegensatz zu den Kassendatenanalysen bildet die Kerndokumentation ausschließlich die Versorgung innerhalb der internistischen Rheumatologie ab, da nur Daten von Patienten erhoben werden, die eine entzündlich rheumatische Erkrankung haben und bereits bei einem Rheumatologen in Behandlung sind [2]. Für die Untersuchung der fachärztlichen Versorgungsqualität sind diese Daten mehr als relevant.

Die Kerndokumentation bildet nur die Versorgung innerhalb der internistischen Rheumatologie ab

Betrachtet man die rheumatologische Versorgung am Beispiel von Patienten mit RA im Jahr 2020, dann sollte das Versorgungsziel ein Erreichen von Remission oder zumindest niedriger Krankheitsaktivität sein. Tatsächlich befanden sich 2018 46 % der in der Kerndokumentation erfassten RA-Patienten in DAS(Disease Activity Score)28-Remission und 19 % in CDAI(Clinical Disease Activity Index)-Remission. Gleichen wir den Ist-Zustand mit früheren Jahren ab, haben wir erreicht, dass die Patienten, die in Deutschland rheumatologisch versorgt werden, heute mehrheitlich einen weitgehend uneingeschränkten Funktionsstatus haben (Abb. 1). Schauen wir in die Zukunft, so können wir mit einem rechtzeitigen und zielorientierten Einsatz von DMARDs die Prognose der Patienten verbessern, d. h. eine dauerhafte Remission erreichen, langfristig auf Glukokortikoide verzichten und Komorbidität vermeiden. Im Jahr 2018 erhielten nach den Daten der Kerndokumentation noch mehr als die Hälfte der RA-Patienten mit >2-jähriger Krankheitsdauer Glukokortikoide. Darüber hinaus hat die PROCLAIR-Studie gezeigt, dass fast einem Viertel der Befragten mit RA Opioide verordnet wurden. Hier besteht noch Handlungsbedarf, die medikamentöse Versorgung der RA-Patienten spezifischer und folgenärmer einzusetzen. Daten aus Rheuma-VOR und dem Vorgänger Projekt ADAPTHERA zeigen, dass bei adäquatem Vorgehen eine Remission in über der Hälfte der RA-Patienten erreicht werden kann [3].

Abb. 1
figure 1

Anteil an Patienten in DAS(Disease Activity Score)28- und CDAI(Clinical Disease Activity Index)-Remission sowie mit einem guten Funktionsstatus, Daten aus der Kerndokumentation 1993 bis 2018. FFbH Funktionsfragebogen Hannover

Perspektiven

Die Versorgungsforschung 2030 wird sich von der heutigen Forschung auf vielen Ebenen unterscheiden. Die Digitalisierung eröffnet zahlreiche neue Möglichkeiten, erfordert aber auch die Expertise, digitale Anwendungen zielgerichtet so einzusetzen, dass sie die Forschung qualitativ verbessern und nicht Unmengen an Daten von geringer Qualität produzieren.

Digitale Datenerfassung

Innerhalb der letzten Jahre sind zunehmend Plattformen für eine digitale Datenerfassung entwickelt worden. Basierend auf der seit 1997 bundesweit durchgeführten Kerndokumentation rheumakranker Kinder und Jugendlicher [4], die mittlerweile etwa 15.000 Patienten pro Jahr papierbasiert erfasst, wird im Programmbereich Epidemiologie in Kooperation mit der Universität Heidelberg deren webbasierte Erfassungsplattform KRhOKo entwickelt (http://www.krhoko.de/). Die Anwendung gestattet den teilnehmenden Einrichtungen, Basis- und Verlaufsdaten von entzündlich rheumatischen Erkrankungen des Kindes- und Jugendalters zentral über das Internet zu erfassen. Neben der Erfassung der Outcomes der Patienten im Langzeitverlauf bietet KRhOKo die Option eines Datenexportes für die einzelnen Einrichtungen sowie einer automatisierten Weitergabe von definierten Parametern an weitere Systeme (z. B. die Ulmer Online-Klinik, das BiKeR-Register). Stimmen die Patienten bzw. deren Eltern einer Teilnahme an der webbasierten Version zu, erhalten diese die Möglichkeit, ihren Fragebogen am Computer oder mobilen Endgerät zu beantworten.

Durch die Implementierung von Zusatzmodulen ermöglicht KRhOKo zudem die Teilnahme am Verbundprojekt COACH (Screening nach psychischer Komorbidität Jugendlicher mit juveniler idiopathischer Arthritis [JIA]) und die Dokumentation in der prospektiven multizentrischen Beobachtungsstudie „ProKind“ (Gewinn von Zusatzinformationen zur Therapie und den Behandlungsergebnissen im ersten Behandlungsjahr).

In diesem Jahr wird auch die Erwachsenen-Kerndokumentation auf die digitale Dokumentationsplattform RheMIT umgestellt. RheMIT wird gemeinschaftlich vom Berufsverband Deutscher Rheumatologen (BDRh), dem DRFZ (Deutsches Rheuma-Forschungszentrum) und zukünftig auch von weiteren Stake Holdern (Deutsche Gesellschaft für Rheumatologie, Verband Rheumatologischer Akutkliniken) entwickelt, um die Datenerfassung für verschiedene Versorgungsverträge und Forschungsprojekte zu vereinheitlichen [5]. Im Rahmen von RheMIT wird auch die Kerndokumentation unterstützt. Seit 1993 wurde die Kerndokumentation für viele Jahre auf Papier dokumentiert. Ab 2006 erfolgte die Erfassung über verschiedene heterogene Dokumentationssysteme, die je nach Verfügbarkeit und Expertise der beteiligten Einrichtungen genutzt wurden. Mit RheMIT kann nun die Dokumentation in der Praxis einheitlich für verschiedene Forschungsvorhaben und Versorgungsverträge erfolgen. Die Datenerfassung innerhalb der Kerndokumentation vereinfacht sich, und damit könnten auch wieder neue Praxen und Kliniken, die RheMIT nutzen, für die Kerndokumentation gewonnen werden. Durch eine Erweiterung der Anzahl teilnehmender Zentren und die Erfassung neu erkrankter Patienten ließe sich die aktuelle Versorgung innerhalb der internistischen Rheumatologie anhand der Kerndokumentation noch repräsentativer abbilden. Der Wegfall umständlicher Datenerfassungsprozesse würde zukünftig zeitnahe Auswertungen mit aktuelleren Jahresdaten ermöglichen.

Das Schwangerschaftsregister Rhekiss und das Krankheitsregister RABBIT-SpA verfügen bereits von Beginn an über eine ausschließlich webbasierte Datenerfassung [6]. In beiden Registern wurden automatisierte Algorithmen für das Datenmonitoring entwickelt, durch die eine hohe Datenqualität bei gleichzeitiger Ressourceneinsparung gegeben ist. Nachfragen bei den teilnehmenden Rheumatologen und Patienten können dadurch reduziert bzw. deutlich zeitnaher gestellt werden.

Neben den Internetplattformen steht den Patienten in Rhekiss eine App zur Verfügung, die ein Ausfüllen von Fragebögen alternativ per Smartphone erlaubt. Eine solche Möglichkeit wird gegenwärtig auch im Rahmen der BMBF-geförderten Frühkohorte ICON entwickelt. Die App „JIA PRO“ wird Patienten mit JIA zur Verfügung stehen und zur Dokumentation von „patient-related outcomes“ (PRO) dienen.

Machine-learning-Methoden

Machine-learning(ML)-Methoden werden zunehmend im Bereich der Versorgungsforschung eingesetzt [7]. ML, das die Fähigkeit besitzt, Computer in die Lage zu versetzen, ohne explizite Programmierung sinnvolle Muster in großen Datensätzen zu identifizieren, hat sich in den letzten Jahren auch in der Rheumatologie als erfolgreicher Ansatz erwiesen. Auf „deep learning“, einem Teilgebiet des ML, basierende Modelle werden inzwischen verwendet, um Krankheitsaktivität vorherzusagen, automatisierte Bilderkennung wird in der bildgebenden Diagnostik genutzt, und individuelle Prognoseabschätzungen durch ML-Methoden sollen klinische Therapieentscheidungen unterstützen [8]. Neben der klinischen Anwendung im Rahmen von bildgebender Diagnostik, Früherkennung und prognostischem Wert wird ML in der Versorgungsforschung dazu beitragen, die im Umfang zunehmenden Gesundheitsdaten der Patienten effizienter auszuwerten. Zum Beispiel können Diagnosealgorithmen in der Forschung mit elektronischen Krankenkassendaten durch ML verstetigt werden [9].

Im Programmbereich Epidemiologie am DRFZ sollen in den nächsten Jahren Modelle des ML entwickelt werden, um die Wahrscheinlichkeit lebensbedrohlicher Ereignisse wie Herzinfarkt oder Schlaganfall bei Patienten mit RA zu bestimmen und Risikofaktoren zu identifizieren. Anhand von ML kann eine große Anzahl von Variablen mit komplexen Beziehungen flexibler einbezogen werden als mit konventionellen Prädiktionsmodellen. Die Entwicklung von ML-Modellen zur Vorhersage kardiovaskulärer Ereignisse soll dazu beitragen, diejenigen Patienten zu identifizieren, die von präventiven Interventionen profitieren würden. Studien zur Vorhersage von kardiovaskulären Ereignissen mithilfe von ML haben gezeigt, dass ML die Genauigkeit der Risikovorhersage im Vergleich zu etablierten kardiovaskulären Risikobewertungsmodellen verbessern kann [10, 11]. Entwickelte Modelle zur RA könnten dann für weitere Krankheitsbilder adaptiert angewendet werden.

Vernetzte Versorgungsforschung

Mit TARISMA (Targeted Risk Management in Musculoskeletal Diseases) ist in diesem Jahr ein neuer BMBF-geförderter Forschungsverbund unter Koordination des DRFZ gestartet [12]. Der Verbund verbindet 3 versorgungsrelevante Perspektiven:

  1. 1.

    die inhaltliche Forschung zur Versorgung von Patienten mit rheumatischen Erkrankungen und weiteren Begleiterkrankungen,

  2. 2.

    die methodische Weiterentwicklung der digitalen Datenerfassung und

  3. 3.

    die Vernetzung von Forschern und Datenbanken, um vergleichende Analysen durchzuführen und Datenauswertungen zu harmonisieren.

Das Verbundprojekt soll zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung bei muskuloskeletalen Erkrankungen beitragen, indem mit verschiedenen Datenquellen Risikofaktoren für eine inadäquate Versorgung von Personen mit entzündlichen und nichtentzündlichen muskuloskeletalen Erkrankungen identifiziert und Ansätze für eine bessere Versorgung spezifischer Risikogruppen entwickelt werden.

Inhaltlich fokussiert der Forschungsverbund auf Komorbiditäten, die eine zunehmende prognostische Bedeutung für den Ausgang rheumatischer und muskuloskeletaler Erkrankungen erfahren haben. Im Biologika-Register RABBIT-SpA weisen 20 % der Patienten mit axialer Spondyloarthritis und 27 % der Patienten mit Psoriasisarthritis 3 oder mehr Komorbiditäten auf. Im Register RABBIT wurde für die RA in verschiedenen Analysen gezeigt, dass Komorbiditäten nicht nur häufig auftreten, sondern sich auch negativ auf den Krankheitsverlauf auswirken. Eine unzureichende Behandlung von Komorbiditäten ist nicht nur mit einer höheren Krankheitsaktivität assoziiert, sondern erhöht auch das Risiko für weitere Komorbidität wie kardiovaskuläre Ereignisse [13, 14].

Methodisch können wir im TARISMA-Verbund digitale Anwendungen einsetzen, um effizienter und bequemer Patientendaten zu erfassen. Patienten haben sich in Befragungen mehrheitlich dafür ausgesprochen, medizinische Apps zu nutzen und Daten für Forschungszwecke zur Verfügung zu stellen [15]. Da die medikamentöse Therapie der Komorbiditäten in RABBIT-SpA nicht ausreichend dokumentiert wird und die behandelnden Rheumatologen die Begleitmedikation der Patienten in ihrer Praxisdokumentation auch nicht immer vollständig erfassen, wird in einem Teilprojekt von TARISMA diese Information direkt vom Patienten generiert. Es soll untersucht werden, ob eine Smartphone-App, die als Medikamentenerinnerungs-App entwickelt wurde, hierfür ein geeigneter Weg ist und sowohl für die Patienten als auch für die behandelnden Ärzte Vorteile bringen kann. Die Smartphone-generierten Daten werden anschließend mit den klinischen Daten des RABBIT-SpA-Registers verknüpft. Darüber hinaus wird die Arzneimitteladhärenz über einen in die App integrierten Adhärenzfragebogen untersucht. Standardisierte Fragebögen für patientenberichtete Outcomes (PRO) werden in der App implementiert und können dann wöchentlich, aber auch spontan zwischendurch, immer dann, wenn der Patient dies wünscht, ausgefüllt werden. Auf diese Weise kann analysiert werden, ob bestimmte PROs während eines definierten Zeitintervalls eine große Varianz zu den in RABBIT-SpA nur zu ausgewählten Messzeitpunkten erhobenen Parametern aufweisen. In RCTs hat sich die Verwendung täglicher elektronischer PRO-Tagebücher bereits bewährt, die Compliance war hoch, und man erhofft sich, den „recall bias“ hierdurch zu reduzieren [16]. Zu einer regelmäßigen Abfrage von PROs haben Patienten grundsätzlich Bereitschaft signalisiert [15].

Ebenfalls im Rahmen von TARISMA werden tragbare Beschleunigungssensoren (Akzelerometer) zur Erfassung von körperlicher Aktivität und sitzendem Verhalten bei Kindern und Jugendlichen mit rheumatischen Erkrankungen eingesetzt. Die Verwendung ermöglicht eine detaillierte und alltagsnahe Beurteilung des Aktivitätsverhaltens, das als gesundheitsrelevanter Prädiktor auch im Rahmen rheumatischer Erkrankungen zunehmende Bedeutung erfährt [17, 18]. Gekoppelt ist das Teilprojekt ActiMON (Activity monitoring in adolescents and young adults with inflammatory rheumatic musculoskeletal diseases) an die Kerndokumentation rheumakranker Kinder und Jugendlicher, die arzt- und patientenberichtete Gesundheitsdaten bereitstellt. Mit ActiMON können die im Rahmen der Kinder-KD (Kerndokumentation) subjektiv erfassten und wenig differenzierten Daten zur körperlichen Aktivität bei verschiedenen rheumatischen Erkrankungen objektiviert werden. Durch den Fokus auf Jugendliche und junge Erwachsene geschieht dies in einer Altersphase, die durch gesundheitsbezogene Entwicklungsaufgaben, Risiken sowie Chancen charakterisiert ist. Zu ihnen gesellen sich im Rahmen chronischer rheumatischer Erkrankungen zudem besondere Herausforderungen, weshalb eine Risikoidentifikation und Prävention umso bedeutender sind. Neben Einblicken in Bewegungsprofile soll das im Wochenverlauf durchgeführte Aktivitätsmonitoring Risikogruppen für Bewegungsmangel identifizieren, Barrieren für körperlich aktives Verhalten aufdecken und Ansätze für Maßnahmen schaffen, die der Entwicklung von Begleiterkrankungen und negativen Folgen im späteren Leben entgegenwirken [19].

Strukturell ermöglicht der Forschungsverbund TARISMA mit der Einbindung von 2 großen bevölkerungsbezogenen Kohorten aus der Versorgungsforschung kollaborative methodische und inhaltliche Analysen, die die muskuloskeletale Versorgungsforschung qualitativ verbessern sollen. Die SHIP-Kohorte besteht aus 2 unabhängigen Kohorten aus Nordostdeutschland [20], anhand derer der langfristige Verlauf subklinischer Befunde, deren Determinanten und prognostische Werte bei Erwachsenen mit Rückenschmerzen untersucht werden. Im Rahmen der Arzneimittelrisikoforschung werden am Bremer Institut für Prävention und Sozialmedizin (BIPS) Daten aus der deutschen pharmakoepidemiologischen Forschungsdatenbank (GePaRD) [21] verwendet, um Behandlungsverläufe von Frauen im gebärfähigen Alter und Schwangeren mit entzündlich rheumatischen Erkrankungen zu untersuchen.

Integration von Biomaterialien

Biobanken ermöglichen Analysen von Biomaterialien zu einer Vielzahl von wissenschaftlichen Fragestellungen. Häufig ist jedoch die Aussagefähigkeit der Analysen dadurch eingeschränkt, dass zum Phänotyp und zum klinischen Verlauf nicht ausreichend Daten zur Verfügung stehen. Dieser Limitation wird in mehreren Kooperationsprojekten des Programmbereichs Rechnung getragen. Bestehende Kooperationsprojekte mit den Universitäten Düsseldorf und Granada, der Universität Münster und der Universität von Calgary in Canada haben zu kennzeichnenden und prognostischen Markern der juvenilen idiopathischen Arthritis [22,23,24] und frühen Arthritis bei Erwachsenen in der CAPEA-Kohorte [25, 26] beigetragen. In RABBIT wurden anhand der Response auf verschiedene Therapieprinzipien gezielt unterschiedliche Patientengruppen identifiziert, von denen in Kooperation mit der Universität Düsseldorf Biomaterial gesammelt wurde, das im Hinblick auf Biomarkerprofile und Risikogene bei multiplen Non-Respondern untersucht werden wird. Eine weitere Kooperation ist zwischen dem RABBIT-SpA-Register und der Projektgruppe Translationale Medizin und Pharmakologie IME-TMP des Fraunhofer-Instituts in Frankfurt gestartet. Am IME-TMP wurde eine Biobank für Patienten mit immunvermittelten Erkrankungen aufgebaut. Durch die Kooperation von RABBIT-SpA können zukünftig Bioproben der Patienten mit den Registerdaten verknüpft werden. Bei einer Einwilligung in das Biobank-Begleitprojekt wird zu 2 Zeitpunkten Biomaterial (Blut, Urin und Stuhlproben) gesammelt und zentral in Frankfurt eingelagert. In zukünftigen Analysen können dann die Analyseergebnisse mit den Registerdaten verknüpft werden, und so kann die Aussagefähigkeit der Ergebnisse erhöht werden.

NAKO-Gesundheitsstudie

Mit der NAKO-Gesundheitsstudie ist 2014 die bislang größte deutsche bevölkerungsbezogene Langzeitbeobachtungsstudie ins Leben gerufen worden, mit der neben kardiovaskulären, Krebserkrankungen, Diabetes, Demenz u. a. auch muskuloskeletale Erkrankungen, speziell entzündlich rheumatische Erkrankungen und Arthrosen, untersucht werden. Hierzu wurden eine systematische Untersuchung zu Schmerzen und Schwellungen an den Händen sowie eine standardisierte Untersuchung der Hüft- und Kniegelenke entwickelt, die bei etwa einem Zehntel der Teilnehmer durchgeführt wurde. Der Programmbereich Epidemiologie war von Beginn an in der muskuloskeletalen Arbeitsgruppe beteiligt und hat v. a. Expertise hinsichtlich epidemiologischer Fragestellungen zu entzündlich rheumatischen Erkrankungen eingebracht [27]. Inzwischen werden in vielen Arbeitsgruppen Daten der ersten 100.000 Teilnehmer ausgewertet. Die muskuloskeletale Arbeitsgruppe hat unter Leitung von Prof. Carsten Oliver Schmidt aus Greifswald eine Übersicht über die Häufigkeit muskuloskeletaler Erkrankungen innerhalb der Kohorte erstellt [28]. Im Interview der 100.000 Befragten wurde von 1,9 % eine RA und von 0,5 % eine ankylosierende Spondylitis angegeben. In der Handuntersuchung hatten 6 % von 9000 Untersuchten Schmerzen an mindestens 1 Fingergelenk und 2,4 % Schwellungen an mindestens 2 Gelenken. Zukünftige Auswertungen, die die Daten aller 200.000 Teilnehmer umfassen, und insbesondere die Verlaufsdaten der Gesundheitsstudie werden für die Versorgungsforschung relevant sein. Mit diesen Daten erhofft man sich, Risikofaktoren auf Bevölkerungsebene für die Entstehung muskuloskeletaler Beschwerden und Erkrankungen zu identifizieren.

Forschung zu SARS-CoV-2/COVID-19

Vor ganz neue Herausforderungen gestellt wird die Versorgungsforschung im Rahmen der SARS-CoV-2/COVID-19-Pandemie. In einer Situation, in der bis dato überhaupt keine Evidenz vorlag, wie mit der Therapie von Patienten mit rheumatischen Erkrankungen vorsorglich und bei Vorliegen einer COVID-19-Infektion umgegangen werden muss, wurden in kürzester Zeit nationale COVID-19-Register sowohl für erwachsene Rheumapatienten unter Leitung der Universität Gießen von Prof. Ulf Müller-Ladner und Dr. Rebecca Hasseli als auch für rheumakranke Kinder und Jugendliche vom DRFZ eingerichtet, um schnellstmöglich Daten zu generieren (https://www.covid19-rheuma.de/; https://www.gkjr.de). Der Programmbereich Epidemiologie am DRFZ trägt seine Expertise hinsichtlich der Datenerfassung und Analysen bei und profitiert von den langjährigen Erfahrungen aus den bestehenden Registern. Auch international wurden bereits bestehende Kooperationen genutzt, um innerhalb kürzester Zeit ein europäisches Register (https://www.eular.org/eular_covid19_database.cfm), das eingebunden ist in eine weltweite Allianz, die Global Rheumatology Alliance (https://rheum-covid.org), ins Leben zu rufen, sodass nach wenigen Wochen bereits erste Daten publiziert werden konnten [29]. Die gemeinsamen Bemühungen, in kurzer Zeit zuverlässige Daten mit einer ausreichenden Zahl an Patienten zu generieren, ist ein sehr positives Merkmal der rheumatologischen COVID-19-Forschung und lässt hoffen, dass baldmöglichst viele offene Fragen beantwortet werden können.

Fazit für die Praxis

  • Versorgungsforschung unterliegt einem stetigen Wandel. Auch in der Rheumatologie verändert sich die Versorgungsforschung durch den zunehmenden Einsatz unterschiedlicher digitaler Anwendungen, die patientennäher (Smartphone-Apps), anwenderfreundlicher (digitale Dokumentationsplattformen) und auswertungseffizienter („machine learning“ [ML]) arbeiten.

  • Inhaltlich sind kollaborative Auswertungen von Forschungsdaten, die Einbindung von Biomaterialien in die bestehenden Register und die Vernetzung der Analysen verschiedener Datenbanken Perspektiven für eine zeitgemäße Forschung in den nächsten Jahren.