Der kanadische Epidemiologe David L. Sackett und der britische Epidemiologe Archibald L. Cochrane gelten als die Pioniere der evidenzbasierten Medizin (EBM). Sackett definierte EBM als den gewissenhaften, ausdrücklichen und vernünftigen Gebrauch der jeweils besten wissenschaftlichen Evidenz für Entscheidungen in der medizinischen Versorgung individueller Patienten. Er betonte, dass EBM den Handlungsspielraum des einzelnen Arztes nicht einschränken, wohl aber eine rationale Grundlage für individuelle klinische Entscheidungen bereitstellen soll. Die nach Archie Cochrane benannte weltweite Cochrane-Kollaboration hat sich zur Aufgabe gemacht, die verfügbare empirische Evidenz zu therapeutischen Interventionen nach einheitlichen Kriterien aufzubereiten. Die Entwicklung von evidenzbasierten Leitlinien beruht auf den von Sackett und Cochrane entwickelten Prinzipien der systematischen Erfassung der besten Evidenz sowie der Einbeziehung der Erfahrungen von Ärzten und Patienten. Das in Leitlinien zusammengetragene Wissen unterstützt auch die partizipative Entscheidungsfindung gemeinsam mit dem Patienten.

Die Erstellung von Leitlinien ist eine zeitaufwendige und teure Angelegenheit. Die Deutsche Gesellschaft für Rheumatologie (DGRh) engagiert sich seit vielen Jahren in ihrer Entwicklung und Aktualisierung. Nicht immer lassen sich europäische oder internationale Leitlinien und Empfehlungen in unser Gesundheitssystem übertragen, weshalb vielfach eine aufwendige Literaturrecherche und Neufassung notwendig sind. Die meisten neueren Leitlinien der DGRh haben die hohen Evidenzgrade S3 (evidenz- und konsensbasierte Leitlinie) oder S2e (evidenzbasierte Leitlinie).

Die meisten neueren Leitlinien der DGRh haben hohe Evidenzgrade

Das Schwerpunktthema in diesem Heft widmet sich neueren Leitlinien in der Rheumatologie und ihren methodischen Grundlagen. Der einleitende Beitrag von Katinka Albrecht beschreibt den Ablauf einer Leitlinienerstellung in der Rheumatologie, die aufwendigen Suchstrategien für die systematische Literaturrecherche, die Zuordnung von Studien zu Evidenzklassen und die Qualitätskriterien einer Leitlinie. Die enorme Leistung der Kommission Leitlinien der DGRh zeigt sich an der Übersicht über die aktuell vorliegenden Leitlinien, die entweder ganz durch die DGRh oder in Kooperation mit anderen Fachgesellschaften erstellt wurden.

Uta Kiltz et al. stellen die S3-Leitlinie zur Diagnostik und Therapie der axialen Spondyloarthritis vor, die auf Initiative der DGRh in Kooperation gemeinsam mit einer Vielzahl anderer Fachgesellschaften und Vereinigungen erstellt wurde. Sie enthält Empfehlungen zur Überweisungsstrategie, zur Anwendung der Bildgebung, der Labordiagnostik, Physiotherapie, Rehabilitation, Patientenschulung und medikamentösen Therapie.

Ein zweiter Beitrag unter Federführung von Uta Kiltz fasst die S2e-Leitlinie zur Diagnostik und Therapie der Gichtarthritis zusammen, die durch die DGRh in Kooperation mit der AWMF (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften) fachärztlich erstellt wurde. Die hier vorgelegte Kurzfassung der sehr umfangreichen Originalleitlinie soll die wesentlichen Aussagen und Empfehlungen einem breiteren rheumatologischen Publikum zugänglich machen.

In seiner Übersicht zu Leitlinien zur rheumatoiden Arthritis (RA) beleuchtet Matthias Schneider wichtige Aspekte, die zum grundsätzlichen Verständnis von Leitlinienempfehlungen hilfreich sind. So machen in der Regel Themenkomplexe mit einem hohen Grad an publizierter Evidenz aus randomisierten kontrollierten Studien (z. B. DMARD [„disease-modifying antirheumatic drug“]-Therapie) den größten Anteil von Leitlinien aus. Die Zusammensetzung des Expertengremiums, Besonderheiten des jeweiligen Gesundheitssystems und (häufig nicht konkret benannte) Kostenaspekte beeinflussen zudem die konkreten Handlungsempfehlungen. Einzelne Empfehlungen z. B. zur Pharmakotherapie müssen im Gesamtkontext der Leitlinie gesehen werden, was am Beispiel der Empfehlungen zur First-Line DMARD-Therapie der RA klar wird. So ist die in den relevanten Leitlinien (DGRh, EULAR [European League Against Rheumatism], ACR [American College of Rheumatology]) ausgesprochene Empfehlung zu einer Monotherapie mit Methotrexat (MTX) nur zusammen mit der gleichzeitigen konsequenten Verfolgung einer Treat-to-Target-Strategie (T2T) plausibel, da eine MTX-Monotherapie im Vergleich zunächst zu signifikant niedrigeren Remissionsraten führt als eine Kombination von MTX mit boDMARDs und tsDMARDs. Erst mit einer T2T-Strategie unter Einschluss von Biologika und Kombinationen konventioneller synthetischer DMARDs sowie lokalen und systemischen Glukokortikoiden lassen sich mittelfristig vergleichbare Ergebnisse erzielen. Dabei sind auch in aktuellen Leitlinien zur RA noch viele zentrale Fragen offen, wie z. B. die beste (und im Hinblick auf das Langzeitoutcome optimale) Definition einer Remission oder die Frage des Einsatzes bildgebender Verfahren zur Erfassung der Krankheitsaktivität im Verlauf.

Dass auch für seltene Erkrankungen heute qualitativ hochwertige Leitlinien erstellt werden können, wird am Beispiel der ANCA (antinukleärer zytoplasmatischer Antikörper)-assoziierten Vaskulitiden (AAV) deutlich. Die Gründung nationaler oder länderübergreifender Forschungsverbünde ermöglichte die Durchführung multizentrischer randomisierter Studien, deren Ergebnisse Basis für Empfehlungen bilden, die über das Niveau eines Expertenkonsensus deutlich hinausgehen. So wurden in den vergangenen zwei Jahren vier Leitlinien zur AAV auf der Basis einer systematischen Literatursuche erstmalig erstellt (DGRh, BSR [British Society for Rheumatology], CanVasc [Canadian network for research on vasculitides]) bzw. grundlegend überarbeitet (EULAR). Beim Vergleich der genannten Leitlinien wird zu zentralen Fragen ein hohes Maß an Übereinstimmung deutlich. In Bereichen mit geringer oder widersprüchlicher Evidenz (z. B. zum Stellenwert der Plasmapherese) werden jedoch auch deutlich unterschiedliche Bewertungen erkennbar. Als mögliche Ursachen einer abweichenden Beurteilung sind auch hier die jeweilige Zusammensetzung des Expertengremiums, Restriktionen oder Besonderheiten des jeweiligen Gesundheitssystems zu nennen.

Fortschritte in der medizinischen Forschung können aber zur Folge haben, dass lange bewährte und oft geliebte Pfade verlassen werden müssen. Am Beispiel der ANCA-Testung wird deutlich, dass auch in der Medizin die Maschine besser als der Mensch sein kann: Aktuelle wegweisende Studienergebnisse zeigen, dass eine ANCA-Bestimmung mittels zahlreicher kommerzieller antigenspezifischer Assays zum Nachweis von PR3- und MPO-ANCA der aufwendigen und sehr von der Expertise des Untersuchers abhängigen indirekten Immunfluoreszenz (IIF) deutlich überlegen ist, selbst wenn die IIF in erfahrenen Referenzlaboratorien durchgeführt wird. Für die in Kürze erwarteten neuen internationalen Konsensusempfehlungen zur ANCA-Diagnostik ist daher eine Empfehlung zur primären und alleinigen Durchführung eines antigenspezifischen Tests (z. B. ELISA oder CLA [Chemoluminiszenztest]) auf Anti-MPO- und Anti-PR3-Antikörper bei Verdacht auf eine ANCA-assoziierte Vaskulitis zu erwarten. Die IIF zur ANCA-Diagnostik könnte daher in Zukunft in vielen Laboratorien ein Auslaufmodell sein.

Handlungsempfehlungen in Leitlinien sind als Entscheidungsunterstützung zu verstehen

Die Bedeutung von Leitlinien nimmt auch in der Rheumatologie zu. Die Beiträge im vorliegenden Schwerpunktheft verdeutlichen aber auch, dass Handlungsempfehlungen in Leitlinien nicht als verpflichtende Vorgabe, sondern vielmehr als eine Entscheidungsunterstützung verstanden werden müssen und die individuelle und oft in Leitlinien nicht abgebildete individuelle Situation des Patienten (Komorbiditäten, Krankheitsverlauf) berücksichtigt werden sollte.

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Prof. Dr. Angela Zink

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Prof. Dr. Bernhard Hellmich