Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR (United Nations High Commissioner for Human Rights) sind weltweit über 68 Mio. Menschen und damit seit dem Zweiten Weltkrieg noch nie so viele Menschen gleichzeitig auf der Flucht. Sie fliehen vor Kriegen, werden vertrieben oder wollen der Armut entkommen. Dabei bleiben die meisten Menschen innerhalb ihres Heimatlandes oder fliehen ins Nachbarland, sodass die größte Last der Konflikte z. B. in Syrien, dem Irak und Afghanistan die angrenzenden Staaten zu tragen haben. Hundertausende Flüchtlinge aus diesen und anderen Regionen wie Afrika machen sich aber auf den Weg nach Europa. Hier sind wohlhabende Länder wie Deutschland und Schweden mit einer florierenden Wirtschaft und einem gut funktionierenden Sozialsystem bei den Flüchtlingen besonders beliebt. Waren es 2013 noch 127.000 Asylanträge, kamen mit der großen Flüchtlingswelle 2015 rund 900.000 Flüchtlinge nach Deutschland. Inzwischen hat sich die Lage wieder etwas entspannt, 2016 und 2017 waren es noch rund 280.000 bzw. 186.000 Asylsuchende.

Es sei darauf hingewiesen, dass wir es aber auch schon vor der großen Flüchtlingswelle mit den Bürgerkriegs- und Armutsflüchtlingen mit sog. medizinischen Flüchtlingen zu tun hatten. Medizinische Flüchtlinge sind Menschen, die aufgrund einer häufig komplexen Erkrankung als Asylsuchende nach Deutschland kommen. Sie sind entweder aus wirtschaftlichen Gründen nicht in der Lage, die notwendige Behandlung in ihren Ländern zu bezahlen, oder die medizinische Versorgung ist in den Heimatländern nicht entsprechend gewährleistet. Diese Gesamtsituation stellt uns vor eine Vielfalt von neuen Herausforderungen, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen.

Die Flüchtlings- und Migrationsmedizin beschäftigt sich u. a. mit bei uns selten gesehenen oder nahezu verschwundenen angeborenen oder erworbenen Erkrankungen. So werden wir z. B. mit bei uns nur noch selten auftretenden Infektionskrankheiten oder einem häufig multiresistenten Keimspektrum oder mit durch Kriegsfolge auftretende und bei uns seltene komplexe urogenitale Verletzungsmuster konfrontiert. Die Behandlung wird weiter durch Kommunikationsprobleme erschwert, die sich nicht nur durch die mangelnden Deutschkenntnisse der Flüchtlinge ergeben, sondern auch durch wesentliche interkulturelle Unterschiede. Mit den Beiträgen in diesem Heft wollen wir uns mit einigen Aspekten dieser Gesamtproblematik auseinandersetzen, sind uns aber bewusst, dass es sich nur um einen kleinen Ausschnitt handeln kann.

Der erste Beitrag in diesem Heft widmet sich den kinderurologischen Herausforderungen bei Flüchtlingskindern. Nach Schätzungen des UNHCR macht von den Ende 2016 bei uns gezählten Flüchtlingen der Anteil der Minderjährigen etwa die Hälfte aus. Aufgrund schwieriger Lebensbedingungen, inadäquater Erstversorgung und erschwerter Fluchtbedingungen sind viele dieser Kinder krank. Dies stellt die Mitarbeiter in den Kliniken und die niedergelassenen Ärzte vor neue Herausforderungen. Der Aufklärung zu operativen Eingriffen kommt ein hoher Stellenwert zu, was neue Wege einer medizinischen Aufklärung vor dem Hintergrund der bestehenden Sprachbarrieren erforderlich macht.

Manche Flüchtlinge kommen mit exotischen Infektionskrankheiten zu uns. Sie waren in ihrem Heimatland häufig von der allgemeinen Gesundheitsversorgung abgeschnitten oder waren auf der Flucht mit mangelnden hygienischen Umständen sowie fehlender Infektionskontrolle konfrontiert. Zwei Infektionskrankheiten, die weltweit verbreitete Tuberkulose und die in der afrikanischen Welt häufige Schistosomiasis sollen in dem zweiten Beitrag dieses Heftes v. a. mit Blick auf deren urologische Relevanz besprochen werden. Die wichtigsten Angaben zu Diagnostik und Therapie werden in diesem Artikel zur schnellen Information übersichtlich dargestellt.

Der nachfolgende Artikel beschäftigt sich mit einem hoch spezialisierten Thema, nämlich der Nierentransplantation, und stellt hierbei die medizinischen Flüchtlinge in den Fokus. Seit Öffnung der Grenzen nach Osten vor mehr als 25 Jahren kommen verstärkt Patienten und ihre Familien zu uns, um medizinische Hilfe in Deutschland zu suchen. Dies ist bei niereninsuffizienten Kindern häufig dann der Fall, wenn technisch komplexe Behandlungen wie Dialyse oder Nierentransplantation erforderlich sind. Die kasuistische Aufarbeitung einzelner Fälle zeigt eindrücklich, welches Schicksal diese Kinder hinter sich haben. Gleichzeitig dokumentiert sie auch, dass so eine komplexe Behandlung wie die Nierentransplantation bei Kindern und Jugendlichen zu einer besseren Integration in unsere Gesellschaft beitragen kann.

Ebenso komplex wie die Nierentransplantation ist die operative Versorgung von Kindern und Jugendlichen aus Kriegs- und Krisengebieten mittels Harnableitungen. Kinder mit angeborenen urogenitalen Fehlbildungen oder funktionellem/traumatischem Verlust urogenitaler Organe stellen das ärztliche und pflegerische Personal nicht nur vor operationstechnische, sondern auch emotionale Herausforderungen. Dabei stellt die größte Herausforderung die exakte Indikationsstellung bei der Wahl des Harnableitungsverfahrens dar. Neben dem Ziel, die z. T. stark eingeschränkte Lebensqualität der betroffenen Kinder zu verbessern, müssen v. a. auch die Lebensumstände in der Heimat der betroffenen Patienten berücksichtigt werden. Dieser Aspekt wird anhand der Erfahrung an 44 Kindern und Jugendlichen in dem vierten Beitrag dieses Heftes pointiert herausgearbeitet.

Der letzte Beitrag widmet sich einer Problematik, mit der wir in Deutschland und Europa sowie der industrialisierten Welt bislang nur wenig konfrontiert waren. Mit Zunahme der Flüchtlinge v. a. aus Afrika, aber auch aus dem mittleren und fernen Osten nimmt die Wahrscheinlichkeit zu, dass wir Urologen von einer beschnittenen Patientin aufgesucht werden. Wir gehen davon aus, dass rund 150.000 beschnittene Frauen in Deutschland leben. Es ist bislang wenig bekannt, dass die weibliche Beschneidung als verstümmelnder Eingriff in ca. 30 % der Fälle zu urologischen Komplikationen führt, wobei insbesondere die Spätkomplikationen wie Infektionen des Harntrakts oder sekundäre Stauungsnieren mit Niereninsuffizienz und Steinbildung im Vordergrund stehen.

Wir wünschen Ihnen viel Freude, aber auch neue spannende Informationen beim Studium dieses Themenheftes zur Flüchtlings- und Migrationsmedizin.

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Prof. Dr. B. Wullich

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Prof. Dr. S. Alloussi