Zusammenfassung
Die in der Fahrerlaubnisverordnung (FeV) und den Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung des Bundesamtes für Straßenwesen (BASt) festgelegten rechtlichen Bedingungen zur Fahreignung nach Hirngefäßerkrankungen entsprechen nicht dem aktuellen medizinischen Wissensstand und stehen im Widerspruch zu vergleichbaren Vorgaben für Herz- und Gefäßkrankheiten. Dies betrifft insbesondere die Bewertung des zukünftigen Risikos für einen plötzlichen Kontrollverlust während des Fahrens. Das von 6 Fachgesellschaften getragene Positionspapier stellt die gegenwärtigen Bedingungen zur Einschätzung der Kraftfahreignung von Patienten nach einem zerebrovaskulären Ereignis dar und unterbreitet durch den gegenwärtigen wissenschaftlichen Kenntnisstand begründete Einschätzungen der Fahreignung. Diskutiert werden: 1. Körperliche und geistige Funktionseinschränkungen und ihre Kompensationsmöglichkeiten, die ggf. eine Fahreignung unter Auflagen oder Beschränkungen ermöglichen, einschließlich der Bedeutung sicherheitswidriger Einstellungen oder Mängel der Einsichts- und Kontrollfähigkeit. 2. Die Höhe des Gefährdungspotenzials durch einen plötzlichen Kontrollverlust infolge eines erneuten Schlaganfallereignisses, einer transitorisch-ischämischen Attacke (TIA) oder eines anderen kardiovaskulären Ereignisses während des Fahrens. Eine zusammenfassende tabellarische Darstellung gibt behandelnden Ärzten und Gutachtern Hilfestellung bei den wichtigsten Hirngefäßerkrankungen.
Abstract
The regulations for ability to drive with cerebrovascular diseases in the German Driving License Regulations (Fahrerlaubnisverordnung, FeV) and German Guidelines for the Evaluation of Driving Ability of the Federal Highway Research Institute (BASt) are not up to date with the current medical knowledge and are not consistent with comparable regulations regarding cardiovascular diseases. This is particularly true for the assessment of future risks for a sudden loss of control during driving. The present position paper of six medical and neuropsychological societies in Germany presents the current conditions for the assessment of driving ability of patients a cerebrovascular diesease and recommends an estimation of the ability to drive founded on the current state of scientific knowledge. It addresses the following: 1. Physical and mental functional limitations and the possibilities for compensation, which if necessary enable a fitness to drive under conditions or within limits, including the importance of behavioral or personality changes and cognitive deficiencies that interfere with safety. 2. The potential danger due to a sudden loss of control as a result of a transient ischemic attack (TIA) new stroke event, or another cardiovascular event while driving. A summary in the form of a table provides physicians and expert assessors with assistance for the most important cerebrovascular diseases.
1. Einleitung
Dem Recht, ein Kraftfahrzeug zu führen, steht das Gefährdungspotenzial durch das Führen eines Kfz gegenüber, weshalb Fahreignung und Fahrerlaubnis strengen rechtlichen Bedingungen unterliegen. Kenntnis des medizinischen Gefährdungspotenzials und der rechtlichen Vorgaben sind für den im Rahmen der Sicherungsaufklärung zur Beratung verpflichteten Arzt und den verkehrsmedizinischen Gutachter gleichermaßen bedeutsam. Die in diesem Positionspapier vorgestellten Empfehlungen beruhen auf der Interpretation klinischer Studien durch Experten, die von folgenden Gesellschaften mit dieser Aufgabe betraut wurden:
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Deutsche Gesellschaft für Neurowissenschaftliche Begutachtung (DGNB),
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Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN),
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Deutsche Gesellschaft für Neurochirurgie (DGNC),
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Deutsche Gesellschaft für Neurorehabilitation (DGNR),
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Deutschen Schlaganfallgesellschaft (DSG),
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Gesellschaft für Neuropsychologie (GNP).
Eine ausführliche Version des Positionspapiers findet sich auf den Websites der DGNB, DGNC, DGNR und GNP.
1.1 Rechtliche Vorgaben
Nach § 2, Abs. 4 Straßenverkehrsgesetz (StVG) ist zum Führen von Kraftfahrzeugen geeignet, wer die notwendigen körperlichen und geistigen Anforderungen erfüllt und nicht erheblich oder nicht wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder gegen Strafgesetze verstoßen hat.
Nähere Bestimmungen hierzu finden sich in der EU-Führerscheinrichtlinie [1], die in Deutschland ihren Niederschlag in der Fahrerlaubnisverordnung (FeV; [2]) des Bundesministeriums für Justiz und Verbraucherschutz findet. Gemäß § 11 FeV sind die Anforderungen an die Fahreignung „insbesondere nicht erfüllt, wenn eine Erkrankung oder ein Mangel nach Anlage 4 oder 5 vorliegt, wodurch die Eignung oder die bedingte Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausgeschlossen wird“.
Zusätzlich werden vom medizinisch-psychologischen Beirat für Verkehrsmedizin der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung herausgegeben [3]. Sie verstehen sich als Entscheidungshilfe für den Einzelfall. Abweichende Einschätzungen sind grundsätzlich möglich, bedürfen aber einer ausführlichen Begründung.
In Deutschland besteht weder Meldepflicht für Erkrankungen, die die Fahreignung einschränken, noch wird der Führerschein nach einer Erkrankung automatisch entzogen. Der Betroffene ist jedoch gemäß FeV verpflichtet, Vorsorge für eine sichere Teilnahme am Straßenverkehr zu treffen, damit er „infolge körperlicher oder geistiger Mängel“ andere nicht gefährdet. Fährt er trotz relevanter Leistungsfähigkeitseinschränkungen, droht der Verlust des Führerscheins, des Versicherungsschutzes und eventuell sogar Strafverfolgung. Die Fahrerlaubnisbehörde schaltet sich nach § 2 (8) StVG erst ein, wenn Tatsachen bekannt werden, die Bedenken gegen eine Fahreignung begründen. Eine Pflicht zur Selbstanzeige bei der Fahrerlaubnisbehörde und/oder zur Beibringung eines verkehrsmedizinischen Gutachtens bei einer bestehenden Erkrankung ist weder im StVG noch in der FeV vorgesehen.
1.2 Anlage 4 FeV und Begutachtungsleitlinien (BGL)
Für die Begutachtung der Fahreignung werden die Fahrerlaubnisklassen (Führerscheinklassen) in zwei Gruppen eingeteilt. Die Gruppe 1 umfasst im Wesentlichen Krafträder, Kraftfahrzeuge bis 3,5 t und landwirtschaftliche Fahrzeuge (Klassen A, A1, A2, B, BE, AM, L und T), die Gruppe 2 Lkw über 3,5 t und Busse (Klassen C, C1, CE, C1E, D, D1, DE, D1E) sowie die Erlaubnis zur Beförderung von Fahrgästen (FzF).
Anlage 4 FeV und Begutachtungsleitlinien (BGL) enthalten eine Aufstellung „häufiger vorkommender Erkrankungen und Mängel, die die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen längere Zeit beeinträchtigen oder aufheben können“. Für Hirngefäßerkrankungen, als „Kreislaufabhängige Störungen der Hirntätigkeit“ (Kap. 3.9.4 BGL) bezeichnet, wird Fahreignung für Gr. 1 nur nach erfolgreicher Therapie und Abklingen des akuten Ereignisses ohne Rückfallgefahr anerkannt, für Gr. 2 jedoch verneint.
Medizinisch ergeben sich nach einem Schlaganfall drei grundlegende Fragestellungen:
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Bestehen körperliche oder geistige Funktionseinschränkungen, die die Fahreignung dauerhaft beeinträchtigen? Wenn ja: Gibt es Kompensationsmöglichkeiten für diese Funktionseinschränkungen, die eine Fahreignung unter Auflagen oder Beschränkungen ermöglichen?
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Wie hoch ist das Gefährdungspotenzial durch einen plötzlichen Kontrollverlust infolge eines erneuten Schlaganfalls oder eines kardiovaskulären Ereignisses während des Fahrens?
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Liegen Mängel der Einsichts- und Kontrollfähigkeit oder sicherheitswidrige Einstellungen vor?
2. Beurteilung körperlicher und geistiger Funktionsstörungen
Schlaganfälle können zu anhaltenden Funktionsstörungen führen, die neurokognitive Funktionen, das Seh- und Hörvermögen, das Gleichgewichtssystem sowie vor allem auch motorische Funktionen betreffen können.
Empfehlung.
Nach stattgehabten Schlaganfällen mit bleibenden Defiziten sollte die diesbezügliche Überprüfung primär schon in der betreuenden Rehabilitationseinrichtung im Rahmen einer eingehenden Evaluation erfolgen und im Entlassungsbrief detailliert dokumentiert werden.
Neurokognitive Störungen
Für kognitive Störungen sind in Abschn. 2.5 BGL zu prüfende Leistungsfähigkeiten vorgegeben. Zusätzlich zu den dort genannten Funktionsbereichen sollten nach Schlaganfällen Störungen des Lernens und Gedächtnisses, der visuell räumlichen Wahrnehmung einschließlich Neglekt sowie der exekutiven Funktionen (z. B. Impulssteuerung, Fehlermonitoring, vorausschauendes Planen und Problemlösen) beachtet werden.
Empfehlung.
In allen Zweifelsfällen ist eine Fahrverhaltensprobe mit einem/r Neuropsychologen/in sinnvoll und angeraten. Ähnliches gilt auch für die Beurteilung der emotionalen Kontrollfähigkeit, Einsichtsfähigkeit und krankheitsbedingter Persönlichkeitsveränderungen, die ggf. die Kraftfahreignung gefährden können.
Das Gefährdungsrisiko kann bei kognitiven Funktionseinschränkungen durch Beschränkungen auf bestimmte Fahrzeugtypen und Auflagen, wie Geschwindigkeitsbegrenzungen, eingeschränkte Fahrzeiten, Begrenzung auf bekannte Umgebung, Verbot des Fahrens bei Dunkelheit etc., im Einzelfall auf ein akzeptables Maß reduziert werden.
Neglekt oder Halbseitenvernachlässigung
Der Neglekt ist eine multimodale, kognitive Störung.
In der Regel ist mehr als eine Modalität (Sehvermögen, Hörsinn und Motorik) betroffen. Beim Autofahren ist der visuelle Neglekt sowohl nach links wie auch nach rechts mit einem erheblichen Gefährdungspotenzial verbunden. Solange sich der visuelle Neglekt im Alltag bemerkbar macht (z. B. beim Anziehen, Waschen, Essen und Navigieren in der Klinik oder zu Hause) und durch andere beobachtbar ist, ist die Fahreignung nicht gegeben. Angaben des Betroffenen alleine sind nicht ausreichend.
Empfehlung.
Gruppe 1: Wenn sich der visuelle Neglekt ohne zusätzlichen Gesichtsfeldausfall soweit zurückgebildet hat, dass er durch andere (z. B. Therapeuten oder Familienangehörige) nicht mehr beobachtet werden kann, kommt eine Fahrverhaltensprobe von 60 min in Betracht. Die Fahrstrecke sollte so gewählt werden, dass der Neglekt gezielt geprüft wird. Die Fahrt sollte gemeinsam mit Neuropsychologen durchgeführt werden. Gruppe 2: Die Fahreignung für Fahrzeuge der Gruppe 2 ist aufgrund der besonderen Belastung und Verantwortung auch bei Rückbildung des Neglekts in der Regel nicht gegeben.
Sprachstörungen
Studien zur Fahreignung mit aphasischen Patienten [4, 5] haben gezeigt, dass Aphasien kein Indikator für die Sicherheit des Führens eines Kraftfahrzeugs sind. Aphasiker unterscheiden sich zudem nicht statistisch signifikant von einer gesunden Kontrollgruppe hinsichtlich des Ergebnisses einer standardisierten Fahrverhaltensprobe. Lediglich Patienten mit einer globalen Aphasie waren häufiger nicht in der Lage, ein Kraftfahrzeug ausreichend sicher zu führen, was wahrscheinlich auf zusätzliche neurokognitive Leistungsminderungen zurückgeführt werden kann.
Empfehlung.
Gruppe 1: Empfohlen wird eine Fahrverhaltensprobe, wenn möglich in Begleitung eines/r Neuropsychologen/in. In diesem Zusammenhang kann auch überprüft werden, ob Verkehrszeichen sicher gekannt und in ihrer Bedeutung verstanden werden. Gruppe 2: Hier muss eine Fahrverhaltensprobe mit einem entsprechenden Fahrzeug der Gruppe 2 (z. B. Lkw) durchgeführt werden. Mindestfahrtdauer 60 min. Die Belastbarkeit ist ggf. gemäß der gesetzlich vorgeschriebenen Lenkzeiten zu überprüfen.
Vaskuläre Demenzen
Bedeutsam sind die vaskuläre Demenz mit akutem Beginn (F01.0), die Multiinfarktdemenz (F01.1) und die subkortikale vaskuläre Demenz (F01.2). Die Erkrankungsgruppe manifestiert sich durch Störungen von Orientierung, Aufmerksamkeit, Sprache, visuell-räumlicher Fähigkeiten, Urteilsvermögen, Handlungsfähigkeit, Abstraktionsfähigkeit, motorischer Kontrolle und/oder Praxie [6]. Die Kombination mit einer Demenz vom Alzheimer-Typ wird als gemischte Demenz bezeichnet.
Empfehlung.
Zur Graduierung von Demenzen und zur jeweiligen Fahreignung wird auf die S3-Leitlinie Demenzen verwiesen [6]. Für die Begutachtung der Fahreignung sind Ausmaß der Beeinträchtigung und die Frage der Progredienz entscheidend.
Die Beurteilung der individuellen Fahreignung erfordert eine ausführliche Anamnese des Betroffenen und macht in der Regel eine Fremdanamnese der Angehörigen notwendig, wobei gezielt nach Fahrfehlern, Unsicherheiten im Straßenverkehr, Beinaheunfällen, Bagatellschäden und größeren Unfällen, aber auch nach Kompensations- und Vermeidungsstrategien sowie der jährlichen Fahrleistung gefragt werden soll.
Zusätzlich sollten weitergehende Untersuchungen (neuropsychologische Testung, Fahrverhaltensprobe) erfolgen. Die Ergebnisse neuropsychologischer Tests und insbesondere kognitiver Kurztests können für sich allein die Entscheidung über die Fahreignung nicht begründen. Darüber hinaus erfordert die allfällige Progredienz der Erkrankung Nachbegutachtungen zunächst in kürzeren Abständen (z. B. ½ bis 1 Jahr).
Sehstörungen
Detaillierte Anforderungen an das Sehvermögen sind in §12 FeV und der Anlage 6 geregelt.
Empfehlung.
In Ergänzung zu den Bestimmungen in der Anlage 6 wird die Untersuchung des Blickfeldes zur Bestimmung der Kompensationsfähigkeit des Gesichtsfeldausfalles empfohlen.
Motorische Störungen
Für Verlust und Paresen von Extremitäten werden in Anlage B der BGL detaillierte Kompensationsmöglichkeiten aufgezeigt. Dabei werden Auflagen (z. B. Umrüstung eines Kfz) und personenbezogene Beschränkungen unterschieden.
Empfehlung.
Einschränkungen oder Verluste von Extremitätenfunktionen in Folge einer Störung des zentralen oder peripheren Nervensystems erfordern regelmäßig eine neurologische Begutachtung. Die Leistungsfähigkeit und Kompensationsmöglichkeiten (durch Beschränkungen oder Auflagen) müssen im Rahmen einer Fahrverhaltensprobe überprüft werden.
Gleichgewichtsstörungen
Das Kapitel 3.10 der Begutachtungsleitlinien macht detaillierte und dem Stand der Wissenschaft entsprechende Ausführungen zu speziellen Schwindelformen. Da dem gleichen Schwindelsymptom sehr unterschiedliche Ursachen zugrunde liegen können, ergibt sich meist die Notwendigkeit einer fachübergreifenden HNO-ärztlichen, internistischen, neurologischen und/oder psychiatrischen Einschätzung.
3. Beurteilung des Gefährdungspotenzials für plötzlichen Kontrollverlust bei Hirngefäßerkrankungen
Plötzliche Erkrankungen während des Fahrens sind in etwa 1,5 pro tausend Unfällen Unfallursache [7]. Die wichtigsten sind Epilepsien und kardiovaskuläre Erkrankungen. Schlaganfälle machen 7 % aus.
Eine europäischen Arbeitsgruppe hat 2005 eine detaillierte Risikostratifizierung für verschiedene Konstellationen von Anfallsereignissen publiziert [8], deren Ergebnisse 2009 in die Neufassung der Begutachtungsleitlinien zu epileptischen Anfällen und Epilepsien einflossen.
Grundsätzlich tragen Patienten mit zerebrovaskulären Erkrankungen ein erhöhtes Risiko für weitere zerebrovaskuläre, kardiovaskuläre Erkrankungen und Todesfälle. Dies entspricht weitgehend den Verhältnissen beim Herzinfarkt.
Die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie [9] orientiert sich in ihrer Bewertung an der von der Canadian Cardiovascular Society [10] vorgestellten Risikostratifizierung bei mit Bewusstseinsstörungen einhergehenden kardialen Ereignissen, die 2016 in Kapitel 3.4 Herz- und Kreislaufkrankheiten der Begutachtungsleitlinien übernommen wurden.
3.1 Allgemeines Gefährdungsrisiko durch Kraftfahrzeuge
Das Gefährdungsrisiko der Fahrzeuggruppen ergibt sich aus den Daten des Statistischen Bundesamtes [11] und ist in Tab. 1 dargestellt.
Das Risiko für Unfälle mit Personenschäden von Pkw und Lkw bis 3,5 t (Gruppe 1 ohne Krafträder und Zugmaschinen) liegt bei 40 % desjenigen von Bussen und LKW über 3,5 t (Gruppe 2). Bisher vom Gesetzgeber nicht berücksichtigt ist das dreifach höhere Gefährdungsrisiko von Bussen im Vergleich zu Lkw >3,5 t.
3.2 Einschätzung des Gefährdungspotenzials durch ein erneutes zerebro- oder kardiovaskuläres Ereignis
In den aktuellen Begutachtungsleitlinien wird dieses Risiko in Kapitel 3.9.4 lediglich im Rahmen transitorisch-ischämischer Attacken angesprochen. Abgesehen davon, dass eine Rezidivgefahr auch bei manifesten Hirninfarkten und anderen zerebrovaskulären Erkrankungen besteht und die als Charakteristikum einer transitorisch-ischämischen Attacke (TIA) hervorgehobene Bewusstseinsstörung nur in 6 % (Bewusstseinsverlust <1 %) vorkommt [12], ist die Rezidivgefahr nur ein notwendiger, aber nicht ausreichender Parameter für die Bestimmung des Gefährdungspotenzials.
Für die Einschätzung des Risikos eines plötzlichen Kontrollverlustes durch einen Schlaganfall am Steuer liegt lediglich eine japanische Untersuchung vor [13]. Unter 2145 in einer Akutklinik aufgenommenen Schlaganfallpatienten (1301 ischämische Insulte, 585 Hirnblutungen, 259 Subarachnoidalblutungen) hatten 85 (4 %) den Schlaganfall am Steuer erlitten. Bei 14 (16 % der Schlaganfälle am Steuer, 0,7 % aller Schlaganfallpatienten) kam es zu einem Unfall. Berücksichtigt man, dass am Unfallort Verstorbene nicht in diese krankenhausbasierte Untersuchung eingingen und Schlaganfallpatienten auch ein erhöhtes Herzinfarktrisiko tragen, ist die Annahme gerechtfertigt, dass sich 5 % der zu erwartenden erneuten kardiovaskulären Ereignisse am Steuer ereignen.
3.3 Gefahr von Personenschäden durch einen Unfall in Folge eines plötzlichen Kontrollverlustes
Für die Fragestellung, wie häufig es zu Personenschäden bei Unfällen in Folge eines plötzlichen Kontrollverlustes am Steuer kommt, liegen mehrere Untersuchungen vor [14,15,16,17,18,19,20,21,22,23].
Zusammenfassend wurden durch 685 plötzliche Kontrollverluste am Steuer 58 Personenschäden berichtet. Die Wahrscheinlichkeit eines Personenschadens durch plötzlichen Kontrollverlust am Steuer beträgt somit 8,5 %, wobei die Mehrzahl (etwa 75 %) leicht waren. Die Arbeitsgruppe schlägt 9 % für die Berechnung von Ac nach der Risk-of-harm-Formel vor.
Die Wahrscheinlichkeit eines tödlichen Personenschadens für andere Verkehrsteilnehmer durch einen plötzlichen Kontrollverlust am Steuer liegt bei 0,8 %.
3.4 Einschätzung des Gefährdungspotenzials nach Schlaganfall gemäß auf Deutschland adaptierter Risk-of-harm-Formel
Die Risikoeinschätzung orientiert sich an der an deutsche Verkehrsverhältnisse adaptierten Risk-of-harm-Formel der Canadian Cardiovascular Society [10] und der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie. [9].
Die Risk-of-harm-Formel lautet:
- TD:
-
verbrachte Zeit am Steuer pro Jahr (25 % für Berufsfahrer)
- V:
-
Gefährdungspotenzial des Fahrzeugs (Lkw = 100 %, Pkw 40 %)
- SCI:
-
Risiko eines plötzlichen Kontrollverlustes während des Fahrens (5 % der Rezidivrate)
- Ac:
-
Wahrscheinlichkeit von Personenschäden durch Unfall mit plötzlichem Kontrollverlust (9 %)
Für einen Gruppe-2-Fahrer mit einem Rezidivrisiko von 10 % pro Jahr ergibt sich folgende Einschätzung:
- TD:
-
(time driving) 25 % (verbrachte Zeit am Steuer pro Jahr),
- V:
-
(vehicle) 100 % (für Lkw),
- SCI:
-
(sudden cardiac/cerebrovascular incapacitation) 5 % der Rezidivrate pro Jahr,
- Ac:
-
(accident risk) 9 %,
- RH:
-
(risk of harm) 0,25 × 1 × 0,005 × 0,09 = 0,00011.
Dieses krankheitsbedingte Risiko macht 1 % des in Tab. 1 dokumentierten allgemeinen Risikos von Lkw >3,5 t von 0,011 (Gr. 2) aus und addiert sich ihm. Entsprechend dem geringeren Schädigungsrisiko von Pkw (V = 40 %) erhöht sich das tolerable SCI bei Taxifahrern. In der Gruppe 1 wirken kürzere Fahrzeiten zusätzlich gefährdungsvermindernd.
In den meisten Staaten gilt ein 1‑ bis 2 %iges krankheitsbedingtes Zusatzrisiko für mit Kraftfahreignung vereinbar.
Diese Annahme begründet sich u. a. durch die weitaus größere Streubreite von Unfallraten in unterschiedlichen Altersklassen. Abb. 1 zeigt die Verteilung von Hauptverursachern für Unfälle mit Personenschäden je 100.000 Führerscheinbesitzer pro Altersgruppe und 1000 Fahrkilometer pro Jahr. Die Daten sind mit freundlicher Genehmigung der Arbeit von [24] entnommen.
4. Prognoseeinschätzung unterschiedlicher zerebrovaskulärer Erkrankungen
4.1 Transitorisch-ischämische Attacken (TIA) und leichter Schlaganfall („minor stroke“)
Das Kurzzeitrisiko, nach einer TIA einen Hirninfarkt zu erleiden, liegt innerhalb von 2 Tagen bei 3–10 %, innerhalb von 7 Tagen bei mehr als 5 % und bis zum 90. Tag bei 9–17 % [25]. Danach fällt es deutlich ab.
Verschiedene Scoring-Systeme wurden entwickelt, um die bestmögliche Prädiktion eines hohen sekundären Hirninfarktrisikos vorherzusagen. Am bekanntesten sind die sog. ABCD-Scores zur Prognoseabschätzung nach TIA. Klinisch wird zur Risikosstratifizierung in der Frühphase heute v. a. der ABCD2-Score (Alter, Blutdruck, Clinical features (Symptome), Dauer der Symptome, Diabetes mellitus) empfohlen [26]. Der Vorteil dieses Scores liegt in seiner Einfachheit und dem Verzicht auf technische Zusatzuntersuchungen [27]. Seine Sicherheit in den Händen von Neurologen, aber auch Nichtspezialisten, ist sehr hoch und seine Risikovorhersage variiert nur gering [28]. Die neue TIA-Registry-Studie [25] gibt gute Daten für das Einjahresrisiko aller vaskulären Komplikationen an:
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TIA 7,1 %,
-
Hirninfarkt 5,1 %,
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Tod 1,8 %,
-
Herzinfarkt und akutes Koronarsyndrom 1,1 %,
-
intrazerebrale Blutung 0,4 %.
Das Einjahresrisiko, ein schwerwiegendes, potentiell die Fahreignung beeinflussendes Ereignis zu erleiden, liegt im Bereich von 15 %. Besonders gefährdet sind TIA-Patienten mit Makroangiopathie und ABCD2-Score von 6 und 7. Der größte Teil des Risikos verteilt sich auf die ersten 3 Monate, was Karenzzeiten bedingt. Generell sind die Daten des TIA-Registry hinweisend auf eine Risikoreduktion, verglichen mit den älteren Daten.
Die Einschätzung des Rezidivrisikos nach TIA und leichtem Hirninfarkt der Essener Datenbank [29] orientiert sich an den üblichen kardiovaskulären Risikofaktoren.
4.2 Hirninfarkte
Das Risiko eines Schlaganfalls in der Normalbevölkerung ist alters- und geschlechtsabhängig ([30]; Abb. 2). Die Raten für männliche und weibliche Schwarze 45 bis 54 Jahre und für männliche Schwarze ≥75 Jahre werden als nicht reliabel eingeschätzt.
Durchschnittlich beläuft es sich auf 8 % pro Jahr.
Dieses Risiko muss mit dem nach Hirninfarkt in Bezug gesetzt werden. Leider gibt es keine entsprechende Vergleichstabelle für die Situation nach Hirninfarkt.
Die Rate erneuter sekundärer Ereignisse variiert von 1–4 % in den ersten 30 Tagen, von 6–13 % im ersten Jahr und von 5–8 % pro Jahr für die nächsten 2 bis 5 Jahre. Nach 5 Jahren kann man von einer 19- bis 42 %igen Risikowahrscheinlichkeit für ein erneutes Schlaganfallereignis ausgehen [31,32,33]. Höhere Raten von Rezidivschlaganfällen werden für makroangiopathische Schlaganfälle berichtet [34]:
-
7,9 % Rezidive für makroangiopathische Infarkte,
-
6,5 % für kardioembolische Infarkte,
-
6,5 % für mikroangiopathische Infarkte.
Insgesamt 70 % der Schlaganfälle hatten denselben TOAST-Subtyp [35], wie der erste Schlaganfall.
Die jährlichen Schlaganfallraten in den Kontrollarmen klinischer Studien [36] fielen über die Jahrzehnte immer weiter ab. Nach Hankey [37] fanden sich in 12 Studien zur Sekundärprävention Raten in der Kontrollgruppe von 8,9 % pro Jahr und in den Verumgruppen von 7,9 % pro Jahr. Der Effekt der sekundärpräventiven Strategie mit geringer absoluter Risikoreduktion von 1 % pro Jahr und einer relativen Risikoreduktion von 12 % ist als moderat zu bezeichnen.
Die wichtigste Veröffentlichung zu dem Thema ist die des Komitees der Amerikanischen Heart Association (AHA; [30]). In dieser Veröffentlichung wurden die wesentlichen Vorstudien zusammengefasst. Am validesten erscheint ein 8 %iges Rezdivrisiko für Hirninfarkte und ein 4 %iges für TIAs, Tod oder Herzinfarkt und Hirnblutung im ersten Jahr. Verglichen mit den allgemeinen epidemiologischen Daten bedeutet dies eine mittlere Risikoerhöhung um den Faktor 10.
Für Hirninfarkte bei Vorhofflimmern ist der CHA2DS2-VASc-Score (C = Herzinsuffizienz, V = vaskuläre Erkrankung wie pAVK oder Herzinfarkt, H = Bluthochdruck, A = Alter, D = Diabetes mellitus, SC = Geschlecht, S = Schlaganfall) am besten zur Prädiktion von Schlaganfallrezidiven geeignet. Er umfasst nicht nur Infarkte, sondern schließt das Risiko von Hirnblutungen ein. Antikoagulation reduziert das Risiko erneuter kardioembolischer Infarkte bei Vorhofflimmern um etwa 70 %.
4.3 Intrazerebrale Blutungen
Spontane intrazerebrale Blutungen (ICB) ohne direkte Blutungsursache wie durch Aneurysmen oder arteriovenöse Malformationen (AVM) beruhen überwiegend auf zwei Krankheitsentitäten: zerebrale Mikroangiopathie durch Hypertonie oder zerebrale Amyloidangiopathie [38]. Beide Varianten unterscheiden sich bezüglich Lokalisation und Rezidivrate. Die hypertensive degenerative Mikroangiopathie hat ihre Hauptaffektion im Bereich der Basalganglien und weißen Substanz, kortikale Areale sind weitgehend ausgespart. Im Gegensatz steht hierzu die Amyloidangiopathie, die überwiegend kortikal auftritt und den parietookzipitalen Bereich bevorzugt [39].
Bei 505 Patienten mit ICB im lobären Bereich, also vermutlichen Amyloidangiopathien, traten 102 ICB-Rezidive auf, während es bei 640 Patienten mit tiefen Stammganglien-ICB, also vermutlich infolge degenerativer Mikroangiopathie durch Hypertonus, nur zu 44 ICB-Rezidiven kam [38]. Beide Formen profitieren von guter Blutdruckeinstellung. Die Ereignisrate lag bei 84/1000 Patientenjahren bei lobären ICB mit ungenügender Blutdruckkontrolle und bei 49/1000 bei suffizienter Blutdruckkontrolle. Bei tiefen ICB kam es zu 52/1000 Rezidiven bei inadäquater Blutdruckkontrolle vs. 27/1000 bei konsequenter Blutdruckkontrolle. Rechnet man die primäre Inzidenz intrazerebraler Blutungen [40] mit in Europa ca. 32/100.000 dagegen, findet sich nach einer ICB eine Risikoerhöhung um den Faktor 100.
In einer Metaanalyse aus 10 Studien [41] mit insgesamt 1306 Patienten wurde der Zusammenhang zwischen asymptomatischen Mikroblutungen in der Magnetresonanztomographie (MRT) und ICB-Rezidiv untersucht. Das jährliche Rezidivrisiko einer ICB lag bei Amyloidangiopathie und ICB bei 7,4 % (95 %-Konfidenzintervall[CI] 3,2–12,6 %) verglichen mit 1,1 % (95 %-CI 0,5–1,7 %) bei nicht mit Amyloidangiopathie verbundener ICB. Multiple MRT-Mikroblutungen erhöhten das Rezidivrisiko bei Amyloidangiopathie um den Faktor 3,1 (95 %-CI 1,4–6,8) für 2 bis 4 Mikroblutungen, um 4,3 (95 %-CI 1,8–10,3) für 5 bis 10 und um 3,4 (95 %-CI 1,4–8,3) für mehr als 10 Mikroblutungen.
4.4 Subarachnoidalblutungen
Bei der Subarachnoidalblutung (SAB) müssen solche ohne Aneurysmanachweis, aneurysmatische, Konvexitäts-SAB und solche bei anderen Gefäßmissbildungen (AVM etc.) unterschieden werden [42]:
-
Nichtaneurysmatische, perimesenzephale SAB haben ein extrem niedriges Rezidivrisiko [43], was in der Praxis zu vernachlässigen ist.
-
Die sog. Konvexitäts-SAB ist eine insgesamt seltene Entität. Bei Menschen unter 70 Jahren ist sie zum größten Teil Folge eines reversiblen Vasokonstriktionssyndroms (RCVS) und bei Patienten über 70 Jahren Folge einer Amyloidangiopathie [44]. Die Rezidivgefahr ist gering.
-
Nach einer Subarachnoidalblutung mit ausgeschalteter Blutungsursache („Clipping“ oder „Coiling“) des Aneurysmas ist das Rezidivrisiko ähnlich hoch wie in der Normalbevölkerung [42, 45] Die Rerupturrate hängt vom Grad der Ausschaltung des Aneurysmas ab, tritt aber bei etwa 90 % innerhalb des ersten Monats nach der Behandlung auf. Bei einer Okklusion von 70–90 % ist über eine 4‑Jahres-Beobachtungsphase das Rerupturrisiko 5,9 %, bei unter 70 % Okklusion 17,6 % [46].
Anders sieht es bei nicht ausgeschalteten Aneurysmen aus. Nach einer aneurysmatischen Subarachnoidablutung und dem Weiterbestehen des rupturierten Aneurysma kommt es zu rund 65 % Todesfällen im ersten Jahr [47].
Akute Subarachnoidalblutungen verlaufen in 12–20 % unmittelbar, d. h. vor jeder Möglichkeit ärztlichen Eingreifens, tödlich [48, 49]. Dieser Prozentsatz und die meist sehr hohe Stärke des Initialschmerzes machen es wahrscheinlich, dass ein plötzlicher Kontrollverlust bei dieser Schlaganfallform häufiger ist als bei allen anderen.
4.5 Nichtrupturierte Aneurysmen
Das Risiko einer Ruptur mit SAB eines bisher nichtrupturierten Aneurysma ist relativ niedrig mit 0,8–1,3 % pro Jahr [42]. Aber dieses niedrige Risiko ist ca. 100-mal höher als das natürliche Risiko in der Bevölkerung mit rund 1 zu 10.000 pro Jahr [42].
Das Risiko einer Ruptur schwankt von Personen ohne vaskuläre Risikofaktoren und einem Aneurysma unter 7 mm mit 0,25 % pro Jahr bis zu 15 % pro Jahr bei Personen mit vaskulären Risikofaktoren und Riesenaneurysmen [50]. Die Autoren entwickelten den sog. PHASES-Score, in dem Hochrisikogruppen klar herausgearbeitet werden (Abb. 3).
4.6 Arteriovenöse Malformationen (AVM)
Patienten mit arteriovenösen Malformationen (AVM) leiden an angeborenen Fehlentwicklungen der kapillären Gefäßbahn, die direkte Kurzschlüsse zwischen arteriellen Gefäßen und venösen Abflüssen über einen sog. Nidus unter Umgehung des Kapillarbettes ermöglichen [51]. Sie sind gefährdet durch die Entwicklung einer Epilepsie und durch Blutungsereignisse. Nicht selten werden AVM mittlerweile im asymptomatischen Stadium durch eine MRT-Bildgebung entdeckt. Ihr natürliches Schicksal und dessen Beeinflussung durch therapeutische Maßnahmen, wie Embolisation, Radiochirurgie oder Operation, sind derzeit Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen.
Das mittlere jährliche Blutungsrisiko wird auf 3 % geschätzt und variiert zwischen 1 und 33 %, je nachdem,
-
ob eine Blutung schon einmal aufgetreten ist,
-
ob eine Lage tief im Gehirn oder Hirnstamm vorliegt und
-
wie die venöse Drainage des AVM erfolgt (negative tiefe Drainage).
Liegt keiner der drei Faktoren vor, ist das jährliche Risiko eines neurologischen Ereignisses unter 1 %, bei einem Faktor zwischen 3–5 %, bei zwei Faktoren um 8–15 % und bei drei Faktoren über 30 %.
Nach Solomon et al. [51] ist das Blutungsrisiko in den ersten 5 Jahren nach Diagnose erhöht und sinkt dann deutlich ab.
Die ARUBA-Studie zeigte deutlich geringere spontane Blutungsraten bei unrupturierten AVM als vermutet [52]. Bei 223 Patienten wurde der primäre Endpunkt (Tod oder symptomatischer Schlaganfall) bei 10,1 % der konservativ behandelten und 30,7 % der interventionell (Operation, Embolisation, Bestrahlung allein oder in Kombination) behandelten Patienten erreicht. Interessanterweise waren keine funktionellen Unterschiede zwischen den für die Operationsindikation relevanten Kriterien [53] in Hinsicht auf die Prognose der Patienten feststellbar [54].
4.7 Intrazerebrale Kavernome
Eine exzellente Metaanalyse aus dem Jahr 2016 schloss 25 Studien mit 90 bis 1295 Patienten je nach Analysefrage ein [55]. Dabei wurde festgestellt, dass ein inzidenzielles Kavernom im Nichthirnstammbereich eine jährliche Blutungsrate von 0,3 % (95 %-CI 0,1–0,5 %) und im Hirnstammbereich von 2,8 % (95 %-CI 2,5–3,3 %) hat. Die Reblutungsrate nach einer Kavernomblutung lag allerdings deutlich höher mit 6,3 % (95 %-CI 3–13,2 %) im Nichthirnstammbereich und 32,3 % (95 %-CI 19,8–52,7 %) im Hirnstammbereich. Die Rate der Nachblutungen war in den ersten zwei Jahren am höchsten und trat im Mittel nach 10,5 Monaten auf. Die Letalität lag hierbei bei 2,2 %.
4.8 Arteriovenöse (AV)-Fisteln
Arteriovenöse (AV-)Fisteln sind seltene zerebrovaskuläre Erkrankungen, die nur 10–15 % aller zerebrovaskulärer Malformationen ausmachen [56]. Die Ursache liegt meist in einer klinisch nachgewiesenen oder aber auch stummen Sinusvenenthrombose mit sekundärer Rekanalisation und dabei induzierter Neoangiogenese. Daher finden sich AV-Fisteln vermehrt bei Patienten mit primären oder sekundären Gerinnungsstörungen wie Faktor-V-Leiden-Mutationen, die vermehrt an Sinusvenenthrombosen erkranken. Umgekehrt wird immer wieder auch spekuliert, dass Fisteln spontan auftreten könnten und sekundäre Sinusvenenthrombosen auslösen würden. Die Raten von nicht blutungsbedingten neurologischen Ausfällen (NHND), Blutungen und Todesfällen schwanken je nach Kollektiv und Drainagetyp der Fisteln. So wurden Raten von Blutungen von 35 %, NHND von 30 % und eine Sterblichkeit von 45 % bei unbehandelten AV-Fisteln mit kortikaler Drainage über einen Zeitraum von 4,3 J berichtet [57]. Wichtig ist zum Verständnis der Erkrankung, dass es sich um eine dynamische Veränderung handelt, die sich im zeitlichen Verlauf auch stark verändern kann. So kann eine harmlose Fistel ohne kortikale Drainage bei einer Größenzunahme zu einer gefährlichen Fistel mit ausgeprägtem kortikalem Abfluss mutieren.
Die besten Einteilungen der AV-Fisteln sind die von Borden et al.[58] und Cognard et al. [59]. Sie klassifizieren Typen nach Drainagewegen bzw. Flussparametern.
Je höher der Typ der Klassifikation ist, desto höher das Risiko von Komplikationen. Dazu gibt es den Vorschlag, die Borden-Klassifikation um asymptomatisch (a) und symptomatisch (s) zu erweitern [60].
Asymptomatische Fisteln vom Typ Borden 2 und 3 oder Cognard 2b, 2a + b, 3, 4 und 5 haben ein jährliches ICB-Risiko von lediglich 1,4–1,5 %.
Therapieentscheidungen (transvenöse Embolisation, transarterielle Embolisation, chirurgischer Verschluss oder Radiochirurgie) sollten in Absprache der verschiedenen Abteilungen im Rahmen einer neurovaskulären Fallkonferenz unter Einbeziehung der Patientenvorstellungen erfolgen.
4.9 Zerebrale Venen- und Sinusthrombosen
Die zerebrale Sinus- und Venenthrombose ist eine seltene Erkrankung, die meist auf dem Boden prädisponierender gerinnungsfördernder Situationen wie Exsikkose, angeborenen Gerinnungsdefekten, Schwangerschaft und Wochenbett etc. auftritt [61]. Einschränkungen der Fahreignung werden v. a. durch die Schädigungsfolgen der Erkrankung selbst oder aber eine begleitende Epilepsie bedingt.
Rezidive spielen bei der Erkrankung keine sehr große Rolle und sind meist durch Gerinnungsstörungen bedingt [61]. Über 39 Monate wurden bei 6 % der Patienten einer Langzeituntersuchung nach zerebraler Venen- und Sinusthrombose eine erneute venöse Thrombose und bei weiteren 6 % eine Blutungskomplikation festgestellt [62]. 12 % über 39 Monate entspräche grob ca. 4 % Rezidiverkrankungen pro Jahr. Ein Großteil davon tritt weder akut auf noch ist er mit einer Einschränkung der Fahreignung per se verknüpft.
Das Rezidivgefährdungspotenzial nach Beendigung der Eindosierungsphase einer Antikoagulation ist nicht wesentlich erhöht.
Allgemeine Empfehlung.
Die Begutachtung der Fahreignung von Patienten mit Hirngefäßerkrankungen erfordert eine spezifizierte Diagnose und kann frühestens nach Abschluss der Primärbehandlung erfolgen. Sie muss neben Art und Ausmaß bestehender Beeinträchtigungen die krankheitsspezifischen Prognoseindizes und Therapiemöglichkeiten beachten. Gutachtlich angeraten ist zudem, Therapiecompliance und Copingstrategien zu erfragen. Oft ist eine interdisziplinäre Begutachtung angeraten.
Bei Progredienzgefahr sind regelmäßige Nachuntersuchungen in 1 bis 2 Jahren erforderlich.
5. Zusammenfassende Empfehlungen zum Risiko aufgrund möglichen Kontrollverlusts
Den folgenden Einschätzungsempfehlungen (Tab. 2) liegt ein nach der modifizierten Risk-of-harm-Formel errechnetes krankheitsspezifisches Zusatzrisiko von 1 % des allgemeinen fahrzeugspezifischen Unfallverursacherrisikos zugrunde.
Die Empfehlungen sollen der gutachterlichen Orientierung für die unverzichtbare individuelle Bewertung dienen. Weitere in den Begutachtungsleitlinien erwähnte Vorgaben für Erkrankungen (z. B. Sehvermögen, Herzrhythmusstörungen, arterielle Hypertonie, Diabetes mellitus, Epilepsie etc.) sind zu beachten. Die für einzelne Krankheitsbilder angegebenen Karenzzeiten stellen Mindestwerte dar. Bei besonderen Risikokonstellationen müssen diese vom Gutachter angepasst werden bzw. im Einzelfall kann auch dauerhaft keine Fahreignung gegeben sein. Nachuntersuchungen bei Erkrankungen mit Progredienztendenz sind regelmäßig notwendig.
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Marx, P., Hamann, G.F., Busse, O. et al. Fahreignung bei Hirngefäßerkrankungen. Nervenarzt 90, 388–398 (2019). https://doi.org/10.1007/s00115-019-0680-z
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