Die genetische Forschung macht außerordentliche Fortschritte. Zahllose Krankheiten, deren Ursachen vor der Identifizierung ihrer genetischen Grundlagen bisher unbekannt waren, sind unterdessen einer raschen Diagnose zugänglich. Erst dadurch werden deren gezielte und personalisierte Behandlung bzw. Prävention möglich. Die Begeisterung der in diesem Feld tätigen Forscher wird allerdings nicht immer von allen Klinikern geteilt. Kliniker fragen beispielsweise, was denn nun der praktische Nutzen davon sei, häufige genetische Varianten oder polygene „risk scores“ zu kennen, wenn diese doch im Einzelfall keine hinreichend zuverlässige diagnostische oder prädiktive Aussage erlauben? Bei welchen Krankheiten ist der Fortschritt konkret greifbar? Wird er über die monogenen – vergleichsweise seltenen – Krankheiten hinaus auch in anderen Bereichen der Medizin relevant werden? Wenn ja, wird das in absehbarer Zeit auch therapeutische Konsequenzen haben? Wie vielen Patienten wird dieser Fortschritt letztlich auch zugutekommen?

Im Jahre 1990 wurde das Humangenomprojekt gegründet, das die erfolgreiche Sequenzierung des menschlichen Genoms ermöglichte. Der Nutzen für die medizinische Forschung wurde schnell greifbar. Seit Kurzem ist es sogar möglich, das Genom eines einzelnen Patienten in wenigen Tagen und zu akzeptablem Preis, also in der Größenordnung von 1000 €, zu sequenzieren. Die Aufgabe für den Forscher besteht darin, unter den vielen genetischen Varianten diejenigen zu identifizieren, die für das jeweilige Krankheitsbild ursächlich sind. Hierbei kann es sich, wie im Falle einer monogenen Erkrankung, nur um eine einzige genetische Variante handeln oder aber wie bei einer multifaktoriellen Krankheit um bis zu tausende Varianten, die gemeinsam mit Umwelteinflüssen das Krankheitsrisiko modulieren.

Und welche therapeutische oder prophylaktische Konsequenz hat das? Meistens keine unmittelbare. Selbst wenn die so gewonnenen Einblicke in die Pathophysiologie teilweise von bisher nicht dagewesener Breite und Tiefe sind, bieten sie bisher aber nur in einer vergleichsweise kleinen Zahl von Fällen eine rasche Behandlungskonsequenz für die Betroffenen. Es wird zwar mit Recht gefordert, dass Forschung translational und schnell für die Patienten nutzbar gemacht werden soll, allerdings darf man die Erkenntnisgewinne nicht nur vor dem Hintergrund ihrer unmittelbaren klinischen Anwendbarkeit beurteilen. Viele davon werden erst nach einiger Zeit in die Klinik Eingang finden. Dies gilt insbesondere im Falle der häufigen multifaktoriellen Erkrankungen wie z. B. den psychiatrischen Störungen.

Vielen Patienten kann eine jahrelange Ärzte-Odyssee erspart werden

Im Bereich der seltenen Erkrankungen sind hingegen bereits gewaltige Fortschritte v. a. in der Diagnose ermöglicht worden. Vielen Patienten kann eine jahrelange Ärzte-Odyssee erspart und in einigen Fällen sogar eine individuelle Therapie angeboten werden.

Diese ständig wachsenden Erkenntnisse stellen den Kliniker vor neue Herausforderungen und werfen ein Spektrum von Fragen auf, die von den Grundlagen der Genetik bis zur legalen und ethischen Implikationen bei der „Datenerhebung und -auswertung“ reichen. Die Ärzte am Krankenbett müssen lernen, mit den neuen Erkenntnissen umzugehen und deren Relevanz dem Patienten vermitteln zu können.

Im vorliegenden Themenheft wollen wir den Lesern Einblicke in grundlegende Aspekte neuropsychiatrischer Genetik und den momentanen Erkenntnisstand geben. Hierdurch soll auch ein Verständnis dafür vermittelt werden, wie Ergebnisse der Forschung und insbesondere einzelne Erfolgsmeldungen im Gesamtkontext einzuordnen sind. Es soll aber auch ein Aufruf dazu sein, der genomisch aufgestellten Neurogenetik in der Diagnostik mehr Raum zu geben und die dadurch gewonnenen Informationen für Therapie, Prophylaxe und Beratung zu nutzen. Neurologen und Psychiater werden zunehmend von den Erkenntnissen der Neurogenetik profitieren und der Umgang mit genetischen Befunden wird im klinischen Alltag zur Routine werden.

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Prof. Dr. Marcella Rietschel

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Prof. Dr. Juliane Winkelmann