Hintergrund

Schon in frühen Beschreibungen psychiatrischer Erkrankungen ist ein familiär gehäuftes Auftreten berichtet worden [44]. Mit formalgenetischen Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass für das familiäre Auftreten genetische Faktoren wesentlich verantwortlich sind [44]. Mit dem Aufkommen molekulargenetischer Methoden wurde seit Mitte der 1980er-Jahre versucht, die beteiligten Gene zu identifizieren. Das erwies sich zunächst als ein frustrierendes Unterfangen mit einer Vielzahl nicht replizierbarer Befunde. Aus heutiger Sicht litten die damaligen Studien entweder an zu geringer Power (Überschätzung der zu erwartenden Effektstärken häufiger genetischer Varianten), mangelnder Abdeckung des Genoms (Untersuchung weniger Varianten in einzelnen Kandidatengenen) oder aber an einer unkritischen Anwendung von Methoden, die bei der Analyse monogener Krankheiten außerordentlich erfolgreich waren (Kopplungsuntersuchung mit anschließender Positionsklonierung), bei psychiatrischen Krankheiten aber nicht der Komplexität des genetischen Beitrags Rechnung trugen.

Mittlerweile hat sich die Situation grundlegend geändert. Für viele psychiatrische Erkrankungen sind krankheitsrelevante Regionen im menschlichen Genom zweifelsfrei identifiziert worden. Die genetischen Befunde bedeuten einen wichtigen Schritt zum Verständnis der molekularen Ursachen. In unserem Artikel fassen wir den Stand der Kenntnis für die Gruppe der schizophrenen und affektiven Störungen zusammen. Wegen ihrer Häufigkeit und Schwere sind diese Krankheiten von den psychiatrischen Erkrankungen des Erwachsenenalters am intensivsten untersucht. Wir geben im Artikel auch einen Ausblick auf Möglichkeiten der Translation genetischer Erkenntnisse in Diagnostik und Therapie sowie auf Strategien zur weiteren Aufklärung der krankheitsrelevanten biologischen Mechanismen.

Genidentifizierung bei psychiatrischen Erkrankungen

Auf die erstmalige Sequenzierung des menschlichen Genoms im Rahmen des Humangenomprojekts [28] folgte seit Beginn der 2000er-Jahre die systematische Charakterisierung der individuellen Ausprägungen des menschlichen Genoms. Damit einher ging ein rasanter technologischer Fortschritt zur effizienten Darstellung der genomischen Variabilität. Mit der Einführung von Mikroarrays, die genomweit häufige genetische Varianten (Einzelnukleotidpolymorphismen, „single nucleotide polymorphisms“ [SNPs]) analysierten (sog. SNP-Arrays), gelang seit Mitte der 2000er-Jahre der Durchbruch in der Analyse multifaktorieller Krankheiten durch die Anwendung genomweiter Assoziationsstudien (GWAS). Auch die genomweite Erfassung seltener Varianten profitierte von der Mikroarray-Entwicklung. Durch eine tiefergehende Analyse der SNP-Array-Intensitätsdaten sowie mit speziell zu diesem Zweck entwickelten Array-Technologien konnten genomweit Verluste oder Zugewinne genetischen Materials (Deletionen/Duplikationen, Kopienzahlvarianten [„copy number variants“, CNVs]) identifiziert werden. Die Mikroarray-Technologien erlauben die Untersuchung von DNA-Proben im Hochdurchsatz und zu stetig sinkenden Kosten.

Mit Bildung internationaler Genomkonsortien gelang der entscheidende Durchbruch

Der entscheidende Durchbruch für die psychiatrischen Erkrankungen gelang letztendlich mit der Bildung internationaler Konsortien (z. B. Psychiatric Genomics Consortium, PGC, [55]), in denen die Datensätze der einzelnen Arbeitsgruppen zusammengeführt und gemeinsam mit neuesten statistischen Verfahren analysiert wurden. Dahinter stand die Einsicht, dass sowohl bei der Analyse häufiger Varianten – wegen der jeweils kleinen Effektstärken – als auch bei der Analyse seltener Varianten – u. a. durch die Vielzahl möglicherweise mutierter Gene – die Stichprobengröße kritisch für den Erfolg ist.

Befunde bei schizophrenen Störungen

Schizophrenie (SCZ) hat eine geschätzte Gesamterblichkeit (Heritabilität) von etwa 60–80 % [4, 40]. Die bisher durchgeführten GWAS konnten mehr als 140 krankheitsassoziierte Loci identifizieren [39, 49]. Unter Einbeziehung der nichtsignifikanten Varianten erklären die untersuchten SNPs eine Heritabilität von etwa 20–30 % [39].

In der bisher größten GWAS des PGCs wurden die Genotypdaten von etwa 37.000 Patienten mit SCZ und 113.000 Kontrollprobanden analysiert und insgesamt 108 genomweit signifikante Loci identifiziert [49]. Die assoziierten Loci implizieren u. a. Mechanismen der Kalziumsignalübertragung, der Signalübertragung an glutamatergen Synapsen und Prozesse des Immunsystems [49]. Das stärkste Assoziationssignal ist in der Major-histocompatibility-complex(MHC)-Region auf Chromosom 6 lokalisiert, welche relevante Gene für die erworbene Immunität enthält [49]. Dieses Signal kann – zumindest partiell – durch strukturelle Variationen in einem Gen, welches für den Komplementfaktor C4 kodiert, erklärt werden. Die unterschiedlichen C4-Allele haben offenbar (über Zwischenschritte) einen Einfluss auf die während der Entwicklung des Gehirns stattfindende Eliminierung von Synapsen („synaptic pruning“; [51]).

Neumutationen verschieben das allelische Spektrum Richtung seltene Varianten

Neben häufigen sind auch seltene genetische Varianten mit der SCZ in Zusammenhang gebracht worden. Ein relevanter Beitrag seltener Varianten war aufgrund der verminderten durchschnittlichen Reproduktionsrate erkrankter Personen bereits vermutet worden [41]. Die trotz verminderter Reproduktionsrate gleichbleibende Häufigkeit in der Bevölkerung ließe sich zumindest teilweise durch einen Beitrag von Neumutationen erklären. Ein größerer Anteil von Neumutationen an den genetischen Ursachen einer Erkrankung führt zur Verschiebung des allelischen Spektrums Richtung seltene Varianten.

Zunächst gelang der Nachweis eines Beitrags seltener Varianten für CNVs. In der weltweit größten CNV-Analyse zu psychiatrischen Erkrankungen wurden die Daten von ca. 21.000 Patienten mit SCZ und 20.000 Kontrollprobanden analysiert. CNVs in acht chromosomalen Loci waren genomweit signifikant mit SCZ assoziiert (Tab. 1). Die identifizierten pathogenen Deletionen und Duplikationen haben moderate bis relativ große Effektstärken (Odds Ratio ca. 4–65). Insgesamt sind pathogene CNVs bei etwa 1 % der Patienten mit SCZ nachweisbar [32].

Tab. 1 Kopienzahlvarianten mit substanziellem Beitrag zur Ätiologie der Schizophrenie. (Aus [32])

Zum systematischen Nachweis seltener nur ein oder wenige Nukleotid(e) umfassender Varianten werden heutzutage typischerweise Sequenzierungen der gesamten kodierenden Sequenzen des Genoms durchgeführt (sog. Exomsequenzierungen). Insgesamt ist die Anzahl an exomweiten Sequenzierungsstudien bei Patienten mit SCZ noch relativ überschaubar (u. a. [17, 46]); bisher wurde nur für ein Gen – SETD1A auf Chromosom 16 – eine genomweit signifikante Assoziation zwischen seltenen pathogenen Varianten und SCZ berichtet [52].

In der bisher größten durchgeführten exomweiten Sequenzierungsstudie zum direkten Nachweis von Neumutationen [17] wurde bei der Untersuchung von knapp 620 Trios (Patient plus Eltern) zwar keine allgemein erhöhte Neumutationsrate gefunden, die detaillierte Analyse zeigte jedoch, dass Neumutationen in spezifischen Gengruppen statistisch signifikant angereichert waren. Zu diesen gehörten Gene, in denen zuvor pathogene Neumutationen bei Patienten mit Intelligenzminderung oder Autismusspektrumstörung berichtet worden waren, z. B. Zielgene des „fragile x mental retardation protein“ (FMRP) und ausgewählte Gene (ARC/NMDAR) der „postsynaptic density“ (PSD).

Befunde bei affektiven Störungen

Die Heritabilität bei der majoren Depression („major depression“, MD) wird auf etwa 40 % [35] und bei der bipolar affektiven Störung („bipolar disorder“, BD) auf etwa 60–85 % geschätzt [4, 30].

Mit GWAS konnten mittlerweile eine größere Zahl krankheitsassoziierter genomischer Loci sowohl für BD als auch für MD identifiziert werden (u. a. [9, 34, 47]). Die aktuell größten Untersuchungen von GWAS-Datensätzen wurden bei affektiven Störungen im Rahmen von Metaanalysen des PGC durchgeführt.

Bei BD konnten mit Genotypdaten von etwa 30.000 Patienten und 170.000 Kontrollpersonen 30 genomweit signifikante Loci identifiziert werden [54]. Bei MD wurden größere Stichproben benötigt, was man sich nicht nur mit der geringeren Heritabilität, sondern vor allem mit der im Vergleich zu BD größeren Heterogenität erklärt. In der 2018 erschienen Metaanalyse des PGC führte die Untersuchung von etwa 135.000 MD-Patienten und 345.000 Kontrollpersonen zur Identifizierung von 44 genomweit signifikanten Loci [61]. Bezieht man die Informationen aller SNPs mit ein, erklären die untersuchten Varianten bei BD eine Heritabilität von etwa 17–23 % und bei MD von etwa 9 % [54, 61].

Die assoziierten Loci und die durch sie implizierten Gene zeigen eine Häufung in bestimmten Stoffwechselwegen. Für BD gibt es Hinweise auf Mechanismen der Histonmodifikation, der Kalziumsignalübertragung und der Endocannabinoidsignalwege [37, 45, 54]. Bei MD zeigte sich unter anderem eine Anreicherung in Genen, die bei der Organisation von Zellkontakten, der synaptischen Übertragung und an Kalziumsignalwegen beteiligt sind [37, 61].

Mit MD und BD assoziierte Loci zeigen eine Häufung in bestimmten Stoffwechselwegen

Kopienzahlvarianten scheinen bei affektiven Störungen im Vergleich zur SCZ eine geringere Rolle zu spielen. Im Rahmen einer Metaanalyse ergaben sich bei BD Hinweise auf eine Beteiligung von drei in der Vergangenheit bereits mit SCZ assoziiert gefundenen CNVs: Duplikationen an den chromosomalen Loci 1q21.1 und 16p11.2 sowie Deletionen am Locus 3q29 [19]. Allerdings hielt nur der 16p11.2-Befund einer Korrektur für multiples Testen stand. Möglicherweise spielen CNVs auch nur bei BD-Patienten mit frühem Krankheitsbeginn eine signifikante Rolle [31, 43].

Bei MD fehlt bisher eine größere Metaanalyse zur möglichen Rolle von CNVs. In kleineren Studien gibt es zwar Hinweise auf einzelne CNVs, darunter auch Deletionen/Duplikationen am 16p11.2-Locus, keiner dieser Befunde hält aber einer Korrektur für multiples Testen stand [12, 48].

Im Rahmen der wenigen, bei Patienten mit affektiven Störungen bisher durchgeführten exomweiten Sequenzierungen zur Identifizierung seltener Varianten konnten zwar erste Kandidatengene für BD und MD impliziert werden, genomweit signifikante Befunde liegen hier aber bisher nicht vor. Die implizierten Gene zeigen eine Anreicherung in der Cholesterolbiosynthese, den G‑Protein-gekoppelten Rezeptoren sowie der Kalzium- und Kaliumsignalübertragung [1, 11, 25]. Zudem scheinen Gene angereichert zu sein, in denen erhöhte Raten von De-novo-Mutationen bei Patienten mit SCZ oder Autismus berichtet wurden [18]. Eine stichprobenmäßig sehr begrenzte Untersuchung von 79 Eltern-Kind-Trios ergab erste Hinweise, dass De-novo-Mutationen auch zur Entstehung der BD beitragen könnten [24].

Überlappende Ätiologien

Schizophrene und affektive Störungen zeigen nicht nur auf der Ebene klinischer Symptome weitreichende Überlappungen, die Erkrankungen treten auch gehäuft zusammen in Familien auf [30]. Es war also zu vermuten, dass ein Teil der genetischen Faktoren sich überschneidet, und durch Analyse der GWAS-Daten war es möglich, das Ausmaß der Überschneidung zu bestimmen. So konnte in der Analyse verschiedener psychiatrischer Erkrankungen gezeigt werden, dass die genetische Überlappung insbesondere zwischen schizophrenen und affektiven Störungen sehr groß ist (ca. 34 % mit MD und 68 % mit BD) und dass bestimmte SNPs diagnoseübergreifend zur Entstehung psychiatrischer Erkrankungen beitragen [2, 10, 29]. Die gemeinsamen Risikogene für SCZ und BD sind in bestimmten Stoffwechselwegen angereichert, z. B. in der synaptischen Langzeitpotenzierung oder in Glutamatsignalwegen [15]. Zudem konnten in einer großen Metaanalyse erstmals zwei genomweit signifikante Loci identifiziert werden, die sich zwischen Patienten mit SCZ und BD unterscheiden und damit offensichtlich zu krankheitsspezifischen Prozessen beitragen [5].

Unterstützt durch die genetischen Befunde werden psychiatrische Störungen zunehmend weniger kategorial, sondern eher mit dimensionalen Ansätzen konzeptualisiert [38]. In diese Richtung geht auch die vom National Institute of Mental Health eingeleitete Research-domain-criteria (RDoC)-Initiative, die die Pathophysiologie der Erkrankungen als zentrale Grundlage für neue Forschungs‑, Diagnose- und Therapieansätze hervorhebt [14, 22].

Ausblick

Durch die Untersuchung immer größerer Patienten- und Kontrollkollektive wird die Identifizierung krankheitsassoziierter genomischer Regionen bei psychiatrischen Krankheiten weiter voranschreiten [56]. Der genomweite Ansatz dieser Untersuchungen ermöglicht eine systematische Kartierung der beteiligten biologischen Faktoren. Solange damit neue, bisher nicht implizierte biologische Zusammenhänge identifiziert werden, ist eine Erweiterung der genetischen Datensätze von großem Nutzen. Ein detailliertes mechanistisches Verständnis der biologischen Zusammenhänge verlangt allerdings zusätzliche Untersuchungen. Mittlerweile steht der Forschung dafür ein großes Methodenrepertoire zur Verfügung. Dieses schließt die Untersuchung biologischer Effekte humaner Mutationen in anderen Spezies (z. B. CRISPR/Cas-induzierte Mutationen in Mausmodellen; [8]), die Generierung genetisch stratifizierter menschlicher Gehirnzellen und Organoide durch induzierte pluripotente Stammzellen [53] sowie die Untersuchung genetischer Effekte auf der Ebene intermediärer Phänotypen ein (z. B. Struktur und Funktion des Gehirns mithilfe bildgebender Verfahren, [6]).

Eine Herausforderung für funktionelle Untersuchungen stellt die Modellierung des polygenen Beitrags dar. Die auf den umfangreichen GWAS-Daten basierenden polygenen Risikoscores (PRS, z. B. [23]), mit denen die polygene Disposition auf der individuellen Ebene, sowohl bei Patienten als auch bei Gesunden, quantifiziert werden kann, werden hier als Durchbruch angesehen. Mithilfe der PRS können z. B. Untersuchungen intermediärer Phänotypen für den genetischen Beitrag stratifiziert werden [13]. Aber auch im experimentellen Modell gibt es erste erfolgreiche Ansätze zur funktionellen Analyse des polygenen Beitrags [20].

Die funktionellen Konsequenzen der meisten GWAS-Befunde betreffen die Genregulation

Die allermeisten GWAS-Befunde bei psychiatrischen Erkrankungen liegen in Bereichen des Genoms, die nicht direkt in Proteine umgesetzt werden. Die funktionellen Konsequenzen betreffen in diesem Fall höchstwahrscheinlich die Genregulation. Das krankheitsrelevante Gen muss aber nicht unbedingt das der assoziierten Variante nächstgelegene sein. Hilfreich sind dann Studien, die z. B. systematisch den Einfluss genetischer Varianten auf die Expression von Genen untersuchen (sog. „expression quantitative trait loci“, eQTLs). Da die Regulation der Genexpression häufig gewebe- bzw. zellspezifisch erfolgt, benötigt man bei psychiatrischen Erkrankungen diese Daten für relevante Gewebe bzw. Zellen des Gehirns [50]. Mittlerweile gibt es international koordinierte Bemühungen, solche Daten systematisch für alle Gewebe/Zelltypen beim Menschen zu generieren (u. a. Genotype-Tissue Expression [GTEx] project; CommonMind Consortium). Wenn man allerdings bedenkt, dass die genetische Variante möglicherweise in einer DNA-Sequenz liegt, die nur zur Regulation des Gens im Rahmen des Krankheitsprozesses verwendet wird, und damit der funktionelle Effekt im Normalzustand gar nicht sichtbar ist, kann man sich vorstellen, vor welchen methodischen Herausforderungen die Generierung solcher Datensätze speziell für psychiatrische Erkrankungen steht.

Die Entwicklung neuer Medikamente zur Therapie psychiatrischer Erkrankungen stagniert seit mehreren Jahren, mehrere große Pharmaunternehmen haben sich aus dem Indikationsgebiet zurückgezogen [21]. Von der genetisch basierten Charakterisierung biologischer Stoffwechselwege erhofft man sich hier ein neues Momentum [7]. Die Tatsache, dass in den genetischen Studien Gene identifiziert werden, die für etablierte „drug targets“ (z. B. Dopamin-D2-Rezeptor bei der SCZ) bzw. für deren nahe Interaktionspartner kodieren, dient dabei als „proof of principle“. Auf Basis der genetischen Befunde sind u. a. für die SCZ das „synaptic pruning“, die glutamaterge Neurotransmission oder bei der BD Prozesse der Kalziumsignalwege als vielversprechende biologische Interventionsfelder identifiziert worden [36, 42, 49, 51].

Voraussetzungen zur Translation genetischer Befunde in die Diagnostik werden derzeit eruiert

Während die Entwicklung neuer Medikamente ein langwieriger und höchst aufwendiger Prozess ist, kann die Translation genetischer Befunde in die diagnostische Praxis im Prinzip sehr viel rascher erfolgen. So ist eine genomweite Untersuchung auf CNVs heutzutage diagnostische Routine bei Patienten mit Intelligenzminderung oder einer Störung aus dem Autismusspektrumformenkreis. Obwohl es auch Vorstöße für eine Anwendung bei der SCZ gibt [3], ist insbesondere der klinische Nutzen noch nicht überzeugend dargestellt. Der klinische Nutzen könnte z. B. darin liegen, dass Trägern bestimmter CNVs ein dem psychischen und somatischen Symptomspektrum angepasstes klinisches Management empfohlen wird [60]. Da CNVs vor allem bei schizophrenen Patienten mit zusätzlichen Symptomen bzw. Auffälligkeiten beobachtet werden, stellt sich auch die Frage nach den spezifischen Indikationskriterien für eine CNV-Untersuchung.

Wie verhält es sich mit den PRS in der Diagnostik? Der erste Einsatz der PRS in der Diagnostik könnte gekoppelt an die CNV-Diagnostik erfolgen, da der polygene Hintergrund die Penetranz der CNVs beeinflussen und bei einer prädiktiven (vorhersagenden) Diagnostik bei Verwandten erkrankter CNV-Träger das Risiko modifizieren kann [57]. Weitere diagnostische Einsatzgebiete für den PRS sind analog zu anderen multifaktoriellen Krankheiten vorstellbar [59], wie z. B. im Kontext einer Therapieentscheidung, bei der Definition von Hochrisikogruppen für präventive Interventionen oder im Rahmen der individuellen Lebensplanung (u. a. [16, 33]). Für alle diese Anwendungsbereiche muss aber zunächst der Nutzen in wissenschaftlichen Studien gezeigt werden. Eine weitere Anwendungsperspektive ist die Abgrenzung von homogeneren Subgruppen von Patienten und darauf aufbauend die Etablierung ätiologisch basierter Klassifizierungsschemata [5, 22, 38].

Bei psychiatrischen Erkrankungen entfaltet sich der genetische Beitrag nur im Zusammenspiel mit äußeren Einflussfaktoren. Mit zunehmender Identifizierung der genetischen Faktoren ergeben sich neue Möglichkeiten der Untersuchung von Gen-Umwelt-Interaktionen [58]. In epidemiologischen Studien eröffnet die Einbeziehung genetischer Daten erstmals die Möglichkeit, den Einfluss äußerer Risikofaktoren auf Kausalität zu testen (Stichwort „Mendelian randomization“, z. B. [27]). Auf der molekularen Seite gelingt es zunehmend, in relevanten Geweben/Zellen biologische Signaturen äußerer Einflüsse zu identifizieren, z. B. durch die Untersuchung von DNA-Methylierung (für eine Übersicht siehe z. B. [26]). Technologische Fortschritte (z. B. Methylierungs-Mikroarrays) erlauben mittlerweile auch hier genomweite Untersuchungen. Dadurch gewinnt das Forschungsgebiet der Epigenetik bei psychiatrischen Erkrankungen ein zusätzliches Momentum.

Nicht zuletzt haben die genetischen Untersuchungen entscheidend dazu beigetragen, psychiatrische Erkrankungen als Erkrankungen komplexer biologischer Netzwerke zu verstehen. Diese Netzwerke im Sinne eines systemmedizinischen Ansatzes umfassender zu verstehen, ist die große Herausforderung für die Zukunft.

Fazit für die Praxis

  • Der genetische Beitrag zu affektiven und schizophrenen Störungen ist bei der Mehrzahl der Patienten durch ein Zusammenspiel vieler, in bestimmten biologischen Stoffwechselwegen angereicherter Gene bedingt (polygener Beitrag).

  • Eine Subgruppe von Patienten mit schizophrenen Störungen weist spezifische genomische Deletionen/Duplikationen auf (sog. CNVs), mit einem jeweils größeren Beitrag zur Entwicklung der Erkrankung.

  • Die Identifizierung kleinerer Mutationen mit großen Beiträgen steht erst am Anfang, dazu werden in naher Zukunft viele Patienten in wissenschaftlichen Studien großflächig sequenziert.

  • Die systematische Aufklärung der biologischen Ursachen durch genetische und nachfolgende funktionelle Untersuchungen wird Ausgangspunkt für die Entwicklung neuer medikamentöser Strategien sein.

  • Für die Umsetzung genetischer Befunde in neue diagnostische Möglichkeiten (z. B. CNV-Diagnostik) werden derzeit die Rahmenbedingungen erarbeitet (z. B. Indikationskriterien).