Hintergrund

Die Aufmerksamkeitsdefizit‑/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) stellt eine der häufigsten Entwicklungsstörungen im Kindesalter dar. Während früher davon ausgegangen wurde, dass die ADHS eine Erkrankung des Kindesalters darstellt, die sich regelhaft im Erwachsenenalter auswächst, konnte mittlerweile gezeigt werden, dass die Symptome bei etwa 50–80 % der Betroffenen zumindest teilweise bis ins Erwachsenenalter persistieren [1]. Dabei stellt ADHS einen relevanten Risikofaktor für weitere psychische Störungen sowie somatische Erkrankungen und negative psychosoziale Konsequenzen dar [2].

In einer eigenen Untersuchung konnte gezeigt werden, dass es während des Übertritts vom Jugend- in das Erwachsenenalter häufig zu Therapieabbrüchen kommt und sich damit das Risiko für Betroffene für negative Auswirkungen verstärken kann [3, 4]. Die Notwendigkeit einer engen Verzahnung der Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit den Versorgungssystemen für Erwachsene wird deutlich.

Dies wurde kürzlich auch von den Fachgesellschaften als Aufgabe erkannt und entsprechend mit einer Bestandaufnahme und Empfehlungen adressiert [5], die im Folgenden neben weiteren versorgungsrelevanten Informationen zu ADHS dargestellt werden.

Verlauf der klinischen Symptomatik

Die bekannten Kernsymptome der ADHS mit Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität unterliegen einem entwicklungsbedingten Wandel, wie auch bundesweit repräsentative Verlaufsstudien zeigen [6]. Die im Kindesalter oftmals im Vordergrund stehende motorische Unruhe manifestiert sich bei Erwachsenen mehr als eine innere Unruhe und ein Getriebensein. Die Aufmerksamkeitsspanne kann zwar entwicklungsbedingt zunehmen, bleibt dennoch auch im Erwachsenenalter im Vergleich zu Gleichaltrigen ohne ADHS reduziert. Zudem tritt eine affektive Instabilität mit Stimmungsschwankungen und erhöhter affektiver Irritabilität mehr in den Vordergrund, die neben der Schwere der ADHS als ein Risikofaktor für die Persistenz in das Erwachsenenalter identifiziert wurde [7].

Verlauf der administrativen Prävalenz

Im Kindesalter wird weltweit von einer Häufigkeit von ca. 5 % ausgegangen [8], wobei für Deutschland bei Anwendung der DSM-IV-Kriterien (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) auch höhere Prävalenzraten gefunden wurden [9]. Für das Erwachsenenalter wurde eine Prävalenz von 2,8 % bestimmt [10]. Im Kindesalter findet sich noch eine „Jungenlastigkeit“, die im weiteren Lebensverlauf abnimmt [10]. Die für Deutschland vorliegenden Daten zur administrativen Prävalenz (Häufigkeit der ICD-10-Diagnosen zu Abrechnungszwecken in den Jahren 2009 und 2014) verzeichnen mit inzwischen 12 % bei Jungen im Alter von 10 bis 14 Jahren einen Anstieg der Diagnosehäufigkeit [3] und lassen eine etwas zu häufige Diagnosestellung vermuten. In der Transition vom Jugend- ins Erwachsenenalter hingegen zeigt sich bei Adoleszenten, deren Diagnosen und Behandlung zwischen 15 und 21 Lebensjahren evaluiert wurden, ein deutlicher Abfall der Diagnosehäufigkeit (von 100 % auf 31,1 %). Dieser Abfall in der administrativen Prävalenz lässt sich nicht allein durch die Verminderung der Symptomatik im Verlauf des Jugendalters erklären, die auch für Deutschland bestätigt ist [6], sondern weist auf das vormals erwähnte Versorgungsdefizit in dieser empfindlichen Lebensphase hin, das sich noch deutlicher in der Abnahme einer medikamentösen Behandlung mit ADHS-spezifischen Medikamenten zeigt (von 51,8 % auf 6,6 %, vgl. Abb. 1). Im Erwachsenenalter zeigen sich nur noch administrative Prävalenzraten von 0,4 % [3].

Abb. 1
figure 1

Transitionskohorte mit ADHS 2008–2014. Quelle: [3]. Abbildung mit freundlicher Genehmigung © Deutscher Ärzteverlag GmbH

Diagnostik im Kindes- und jungen Erwachsenenalter

Lange wurde diskutiert, weshalb die Persistenz der ADHS in das Erwachsenenalter so lange unerkannt blieb und erst seit Mitte der 1990er Jahre in Deutschland zunehmend ins klinische und wissenschaftliche Bewusstsein rückte [11, 12]. Als ein Faktor sind sicherlich die diagnostischen Kriterien per se zu nennen, die bis zur fünften Auflage des für psychische Störungen geltenden Diagnostisch Statistischen Manuals (DSM-5) weder nach ICD noch nach DSM erwachsenenspezifische Kriterien vorhielten. Zwar war bereits nach ICD‑9 grundsätzlich die Diagnosestellung auch bei Erwachsenen möglich, aber ohne entwicklungsbezogene Anpassungen und entsprechende Symptombeispiele waren die Kriterien für Erwachsene ohne praktisch handhabbaren Wert. Inzwischen wird entwicklungsbezogenen Symptomveränderungen in DSM‑5 und ICD-11 Rechnung getragen (vgl. Infobox 1).

ADHS wird nun den Entwicklungsstörungen mit engem Bezug zur neuronalen Reifung zugeordnet. Nach ICD-11 soll der Beginn der ADHS-Symptomatik bis zum mittleren Kindesalter nachweisbar sein, und DSM‑5 definiert einen Beginn vor dem Alter von 12 Jahren, während die vorhergehenden Fassungen beider Klassifikationssysteme einen früheren Beginn vorausgesetzt haben. Diese Änderung trägt nun epidemiologischen Studien Rechnung, die bei einem erheblichen Anteil der Betroffenen ein (noch) späteres Erstmanifestationsalter belegen [7]. Das Ausmaß der Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität soll die Varianz des altersentsprechend zu Erwartenden überschreiten und zu erheblichen Einschränkungen in der akademischen, beruflichen und sozialen Funktionsfähigkeit führen. Analog zu DSM‑5 wird weiter die mögliche Veränderung der Symptomatik (Abnahme von Hyperaktivität) im Lebensverlauf berücksichtigt. DSM‑5 und auch ICD-11 ersetzen den Begriff der Subtypen mit dem Begriff der Erscheinungsformen, um deutlich zu machen, dass sich das Störungsbild im Verlauf ändern und beispielsweise von einer hyperaktiv-impulsiven Erscheinungsform im Kindesalter zu einer primär unaufmerksamen Erscheinungsform im Erwachsenenalter wechseln kann.

Neuropsychologie in der Transition

Im Gruppenvergleich zu gesunden Kontrollprobanden zeigen Kinder, Jugendliche und teilweise auch Erwachsene noch objektivierbare Schwierigkeiten in der Inhibition von impulsiven oder automatischen Reaktionen, eine verlängerte Reaktionszeit und erhöhte Reaktionszeitvariabilität [13]. Zudem sind Auffälligkeiten im Arbeitsgedächtnis, in der Belohnungsantizipation und -verarbeitung sowie der Zeitwahrnehmung gezeigt worden [13].

Interessanterweise ist das Ausmaß der neurokognitiven Auffälligkeiten im Kindesalter jedoch nicht prädiktiv für die Schwere der ADHS-Symptomatik und Verhaltensauffälligkeiten in der Transition bzw. im jungen Erwachsenenalter. Hier zeigte sich in einer holländischen Kohorte eine Normalisierung in zahlreichen neurokognitiven Bereichen, während die Antwortvariabilität und das verbale Arbeitsgedächtnis beeinträchtigt blieben. Aber auch diese Auffälligkeiten waren unabhängig vom klinischen Ausmaß der ADHS [14]. Entsprechend tritt nach den S3-Leitlinien die Bedeutung testpsychologischer Untersuchungen in den Hintergrund und wird allenfalls bei speziellen Fragestellungen wie Unter- oder Überforderung sowie als ergänzende diagnostische Untersuchung empfohlen (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V., AWMF, 2017) [15].

Auswirkungen der ADHS in der Transition

ADHS kann im Lebensverlauf durchaus mit positiven Eigenschaften wie Pioniergeist, Energie und Experimentierfreudigkeit vergesellschaftet sein. Die negativen Auswirkungen einer ADHS sind jedoch hinreichend belegt. Während im Kindesalter Schulschwierigkeiten, schlechtere Schulabschlüsse und Ausgrenzung gezeigt wurden [16], leiden junge Erwachsene mit ADHS unter schlechteren oder keinen (akademischen) Abschlüssen, somit beeinträchtigten beruflichen Perspektiven, frühen ungeplanten Schwangerschaften und familiären Konflikten. Zudem erleben sich Erwachsene mit ADHS als minderwertig und fühlen sich stigmatisiert [17]. Eine Meta-Analyse zeigt, dass neben dem Schweregrad von ADHS komorbide Störungen des Sozialverhaltens und komorbide depressive Symptomatik in der Kindheit Risikofaktoren für die Persistenz der Symptomatik im Erwachsenenalter sind [7].

ADHS stellt einen erheblichen Risikofaktor für weitere psychische Störungen wie Depressionen, frühen und schwereren Substanzkonsum, Angsterkrankungen und Persönlichkeitsstörungen dar [18, 19]. Auch somatische Erkrankungen wie Allergien, atopische Dermatitis [20], die Folgen von Unfällen [21], Adipositas [22] sowie – im späteren Lebensalter – arterielle Hypertonie und Diabetes mellitus treten gehäuft auf [2]. Selbst das Mortalitätsrisiko ist bis zum 18. Lebensjahr im Rahmen einer ADHS (hier insbesondere aufgrund der hinzukommenden Komorbiditäten) deutlich im Vergleich zu Gleichaltrigen erhöht [23].

Diese Befunde unterstreichen die Notwendigkeit einer engen interdisziplinären Kooperation verschiedener Fachgebiete in der empfindlichen Phase der Transition, um heranwachsende Jugendliche mit ADHS in einer Phase vermehrter Lösung vom Elternhaus und zunehmend erforderlichen Selbstmanagements zu unterstützen, um die in Infobox 2 dargestellten Hindernisse einer erfolgreichen Transition zu überwinden [24].

Behandlung

Entscheidend bei der Auswahl der ADHS-Therapie sind die jeweilige Symptomausprägung und die daraus resultierenden funktionellen Einschränkungen sowie die Präferenzen der Eltern bzw. zunehmend der Adoleszenten selbst. Die aktuellen Leitlinien empfehlen zunächst altersübergreifend eine multimodale Therapie aus psychopharmakologischer und psychosozialer Behandlung [15]. Dabei stellt eine ausführliche Psychoedukation der Eltern und Betroffenen bezüglich des Störungsbildes und verschiedener Therapiemöglichkeiten nicht nur die Grundlage einer partizipatorischen Entscheidungsfindung hinsichtlich eines geeigneten Behandlungskonzepts dar, sondern soll auch der gefährdeten Adhärenz entgegenwirken. Für die Durchführung stehen manualisierte und evaluierte Konzepte zur Verfügung [25, 26].

Während bei Kindern und Jugendlichen in Abhängigkeit von der Symptomausprägung und Präferenz bei moderater ADHS sowohl psychosoziale Maßnahmen als auch die Medikation gleichermaßen empfohlen werden, stellt bei Erwachsenen die Medikation die erste Wahl auch bei moderater ADHS dar. Bei leichter Symptomausprägung stehen in allen Altersgruppen primär psychosoziale beziehungsweise psychotherapeutische Interventionen im Vordergrund.

Im Folgenden soll auf die beiden hauptsächlichen Behandlungsmöglichkeiten Medikation und psychosoziale/psychotherapeutische Interventionen mit klarer Behandlungsempfehlung in den Leitlinien eingegangen werden. Noch nicht ausreichend evidenzbasierte Maßnahmen, die ergänzend sinnvoll sein können, wie Neurofeedback oder Sport, sind gegenwärtig Gegenstand weiterer wissenschaftlicher Untersuchungen [22, 27].

Medikation

Der Effekt einer Therapie mit Stimulanzien wie Methylphenidat oder Amphetaminen ist bisher bei Kindern, Jugendlichen und im Erwachsenenalter am besten evaluiert [15, 28]. Daneben stehen der selektive Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer Atomoxetin sowie Guanfacin als zentral wirksamer selektiver α2A-Rezeptoragonist zur Verschreibung zur Verfügung. Allerdings wird die Verschreibung einiger Medikamente aufgrund eines altersspezifischen Zulassungsstatus über das 18. Lebensjahr hinaus erschwert (vgl. Tab. 1). Neben seit 2011 zugelassenem retardiertem Methylphenidat ist seit 2019 auch Lisdexamfetamin aus der Gruppe der Stimulanzien zur Behandlung der ADHS im Erwachsenenalter zugelassen. Damit wurde eine weitere Zulassungslücke zwischen dem Jugend- und Erwachsenenalter geschlossen. Hinsichtlich des Verhältnisses von Wirksamkeit und Verträglichkeit wurden für das Kindesalter Methylphenidat und für das Erwachsenenalter die Amphetamine als am günstigsten bestimmt [28].

Tab. 1 Zugelassene Medikation zur Behandlung der ADHS bei Kindern und Erwachsenen in Deutschland

Psychotherapie

Während im Kindesalter auch das Erziehungsverhalten der Eltern durch Beratung und Elterntrainings positiv gestärkt werden soll [15], werden den Jugendlichen vermehrt kognitiv-behaviorale Konzepte zur Stärkung der Organisations- und Selbstmanagementfähigkeiten sowie zu einem angemessenen Umgang mit Emotionen vermittelt [29, 30]. Dieser Ansatz wird im Erwachsenenalter im Rahmen von in der Regel ebenfalls kognitiv-behavioralen Konzepten im Einzel-oder Gruppensetting fortgeführt und durch Module zum Umgang mit im Lebensverlauf erworbenen dysfunktionalen Kognitionen ergänzt [31, 32].

Behandlung in der Transition

Im Hinblick auf eine bessere Versorgung der Adoleszenten wurde – wie eingangs erwähnt – die Transition von den maßgelblichen Fachgesellschaften der Kinder- und Jugendpsychiatrie (DGKJP) und der Erwachsenenpsychiatrie (DGPPN) als eine „gezielte Begleitung des Transitionsprozesses im Sinne einer Koordination der Anbieter und Sicherung der Versorgungskontinuität auf dem Weg von der jugendlichenzentrierten hin zur erwachsenenorientierten Versorgung“ definiert (vgl. Eckpunktepapier, [33]).

Jugendliche Patienten mit ADHS sollten beim Übertritt in das Erwachsenenalter erneut untersucht werden, um einen fließenden Übergang zu ermöglichen und die Weiterbehandelnden umfassend über Vorgeschichte, Behandlungsverlauf und derzeitiges Krankheitsbild zu informieren. Die Schwere der ADHS, einhergehende Beeinträchtigungen und mögliche Komorbiditäten sollten dabei ebenso wie das psychosoziale Funktionsniveau strukturiert erfasst und im Hinblick auf Interventionsbedarf bewertet werden. Lösungsansätze zur Verbesserung der Transition von Jugendlichen mit ADHS sind insbesondere in der Krankenversorgung in fächerübergreifenden komplementären ambulanten und (teil‑)stationären Angeboten zu sehen. Aber auch in der Aus‑, Fort- und Weiterbildung sind verstärkt ADHS per se und deren transitionspsychiatrische und -psychotherapeutische Aspekte zu etablieren. In speziellen Forschungsförderungsprogrammen sollten schließlich diese neu zu etablierenden Konzepte systematisch evaluiert werden.

Fazit

Epidemiologische Daten zur Persistenz der ADHS in das Erwachsenenalter und der Versorgung weisen klar auf eine Versorgungslücke junger Menschen mit ADHS hin. Aufgrund des hohen Risikos – insbesondere von Jugendlichen mit schwerer ADHS – für weitere psychische Störungen wie auch somatische Erkrankungen und negative psychosoziale Auswirkungen besteht Handlungsbedarf, um diese Lücke in Kenntnis und Versorgung zu schließen. Dementsprechend gilt es, spezifische Transitionskonzepte weiter voranzutreiben und wissenschaftlich auf ihre Wirksamkeit für die Betroffenen und deren Familien zu untersuchen.

Infobox 1 Relevante Änderungen im DSM-5 für die Diagnosestellung der ADHS

  • Die insgesamt 18 diagnostischen Kriterien sind nun auch für Erwachsene geeignet.

  • Ab dem 17. Lj. müssen nur noch jeweils 5 statt 6 von den 9 Kriterien für Unaufmerksamkeit bzw. Hyperaktivität/Impulsivität erfüllt werden.

  • Subtypen wurden durch „Erscheinungsbilder“ ersetzt, um der Symptomveränderung im Lebenslauf Rechnung zu tragen.

  • Der Beginn sollte vor dem 12. LJ (statt früher vor dem 7. LJ) nachvollziehbar sein.

  • Die Diagnose ADHS kann nun auch bei Patienten mit Autismusspektrumstörung vergeben werden.

Infobox 2 Spezifische Gründe für die unzureichende Transition bei ADHS

Patient:

  • Struktur durch Elternhaus entfällt

  • Unzureichende Selbstmanagement-Skills

  • Adhärenz sinkt, Therapieabbrüche

Umfeld:

  • Druck, Stimulanzien bspw. Mitstudierenden abzugeben

  • Mangelnde Akzeptanz der Diagnose

Versorgungssystem:

  • Unterschiedliche Zulassungen für Kinder bzw. Erwachsene, damit Wechsel des verordneten Präparates erforderlich

  • Geringere Kenntnisse zu ADHS und deren Behandlung in der Erwachsenenpsychiatrie/-psychotherapie

  • Mangelhafte Übergabe