Falldarstellung

Anamnese

Eine 42-jährige Patientin stellt sich zur Follikelpunktion in Analgosedierung vor. Anamnestisch bestehen keine relevanten Vorerkrankungen. Frühere Narkosen hat sie gut vertragen. Sie ist von zarter Statur (165 cm, 63 kg, Body Mass Index (BMI) 23 kg/m2) und körperlich gut belastbar. Bis auf Östrogene sowie L‑Thyroxin nimmt sie keine Medikamente ein. Allergien sind nicht bekannt. In Steinschnittlage soll transvaginal das Ovar punktiert und Follikelflüssigkeit abgesaugt werden. Der Eingriff dauert üblicherweise 10 min und wird in Analgosedierung (Propofol und Remifentanil) durchgeführt.

In diesem Fall verlängert sich die Eingriffsdauer jedoch; es kommt zu einer Blasenperforation. Die Analgosedierung muss in eine Maskenallgemeinanästhesie eskaliert werden. Weder Maskenhaltung noch -beatmung sind dabei erschwert; es werden keine Hilfsmittel wie z. B. ein Guedel-Tubus benötigt. Insgesamt dauert die Intervention etwas weniger als 30 min, wovon ca. 10 min auf die Beatmung mit Maske entfallen.

Klinischer Befund

Eine Stunde nach Erwachen klagt die Patientin über Übelkeit, ein deutliches parapharyngeales Schwellungsgefühl mit Luftnot sowie über Schluckstörungen. Die Inspektion zeigt eine unilaterale Zungenschwellung rechts. Die Sprache klingt verwaschen, und Trinken ist wegen des Unvermögens, den Mundinhalt mit der Zunge zu transportieren, stark eingeschränkt. Schmerzen werden verneint. Es besteht kein Stridor. Bei einer differenzialdiagnostisch möglichen allergischen Reaktion auf das aufgrund der Blasenperforation verabreichte Antibiotikum erhält die Patientin 250 mg Prednisolon, 4 mg Clemastin und 50 mg Ranitidin; im Anschluss wird sie aufgrund des eindrücklichen Beschwerdebilds zur Überwachung der Vitalparameter auf die Intermediate Care(IMC)-Station verlegt.

Diagnose

Klinische Untersuchung

Der Auskultationsbefund ist bei stabilen Herz-Kreislauf-Parametern unauffällig. Die Patientin ist jederzeit wach und orientiert. Es wird eine interdisziplinäre Ursachenabklärung initiiert. Ein hereditäres Angioödem kann ausgeschlossen werden. Der HNO-Spiegelbefund zeigt eine weite Glottis mit reizloser Schleimhaut an Wange und Zunge. Es imponiert jedoch eine rechtsbetonte Schwellung der Zunge mit ipsilateraler Deviation. Laborchemisch auffällig sind ein Hämoglobinwert von 10,9 g/dl sowie ein C‑reaktives Protein von 11,29 mg/l. In der Zusammenschau wird die Arbeitshypothese einer rechtsseitigen infranukleären Hypoglossusparese unklarer Genese gestellt.

Radiologische Diagnostik

Es erfolgt die konsiliarische Mitbeurteilung durch die Klinik für Neurologie. Aufgrund des klinischen Erscheinungsbildes wird eine akute Karotisdissektion ursächlich als möglich erachtet. In der Bildgebung (kranielle CT, Angio-CT und zerebrales MRT) bestätigt sich dies jedoch nicht. Ebenso zeigen sich keine Hinweise auf ein intrakranielles hämorrhagisches oder ischämisches Geschehen. Auch eine Liquordiagnostik bleibt ohne pathologischen Befund. Es ergibt sich kein Hinweis auf thrombotische Verschlüsse von Zungenarterien oder -venen.

Da die Patientin bei dezidierter Befragung über leichte Schmerzen im Bereich des rechten Unterkiefers klagt und zudem angibt, bei Einleitung der Narkose im Nacken- und Schulterbereich unbequem gelegen zu haben, wird schlussendlich von einer mechanischen Kompression des N. hypoglossus in seinem peripheren Verlauf ausgegangen.

Therapie und Verlauf

Gemäß konsiliarischer Empfehlung wird mit intensiver Logopädie und der Substitution von Vitamin B begonnen. Der weitere Heilungsverlauf gestaltete sich dennoch schwierig. Essen und Trinken werden zwar im Verlauf wieder möglich, aber eine ausgeprägte Schwäche der Zunge bleibt über mehr als 3 Monate bestehen. Die Patientin kann ihre berufliche Tätigkeit als Sozialarbeiterin aufgrund von Sprechstörungen über lange Zeit nicht wieder aufnehmen. Vom geplanten Embryotransfer nimmt sie vorerst Abstand.

Diskussion

Der N. hypoglossus innerviert als XII. Hirnnerv die infrahyoidale sowie die innere und äußere Muskulatur der Zunge [1]. Er verlässt die Medulla oblongata im Sulcus preolivaris bzw. die Schädelhöhle durch den Canalis hgypoglossi (Abb. 1). Streckenweise verläuft er mit dem N. vagus in gemeinsamer Nervenscheide zwischen A. carotis interna und V. jugularis interna nach kaudal zum Kieferwinkel und der Gl. submandibularis [2, 3]. Seine Funktionen betreffen die Artikulation der Sprache und den Schluckakt. Läsionen führen dementsprechend zu Dysarthrie und Dysphagie; die Patienten fühlen ihre Zunge als „dick“, schwer und plump. Bei einseitiger Läsion weicht die Zunge beim Herausstrecken zur ipsilateralen Seite ab; in Ruhe deviiert sie zur Gegenseite (Abb. 2).

Abb. 1
figure 1

Anatomischer Verlauf des N. hypoglossus. Dargestellt ist der Verlauf des Nerven nach Verlassen der Schädelhöhle durch den Canalis hypoglossi. (Modifiziert nach commons.wikimedia.org: Henry Gray, Anatomy of the Human Body [1918] Dieses Werk ist gemeinfrei, d. h. frei von bekannten Beschränkungen durch das Urheberrecht)

Abb. 2
figure 2

Exemplarische Darstellung des klinischen Erscheinungsbildes einer rechtsseitigen Hypoglossusparese. Die Zunge weicht beim Herausstrecken zur ipsilateralen Seite ab

Shah et al. beschreiben in einer Übersichtsarbeit insgesamt 48 Kasuistiken einer Hypoglossusparese nach Atemwegsmanagement im Zeitraum von 1926 bis 2013 [2]; Kraus et al. fanden 28 Fälle in einem Zeitraum von 71 Jahren [3]. Am häufigsten treten postoperative Hypoglossusläsionen im Gefolge von orthopädischen Eingriffen mit Lagerungen, die zu Druck auf den Hals- oder Schulterbereich führen, auf [3], oder im Rahmen von HNO- bzw. MKG-chirurgischen Eingriffen in entsprechender Nervennähe [4]. Eher selten sind rein anästhesieassoziierte Schädigungen. Aus dem anatomischen Verlauf des Nerven wird offensichtlich, dass es im Rahmen der anästhesiologischen Atemwegssicherung zu Läsionen der extrakraniellen Anteile durch Manipulation (Sellick-Handgriff) bzw. durch Kompression durch Larynxmaske, Tubus oder die Blockermanschette gegen das Os hyoideum, gegen Ring- oder Schildknorpel oder den Kieferwinkel kommen kann [4]. Druckläsionen der posterioren Anteile sind möglich, durch die Laryngoskopie oder auch durch eine pharyngeale Abstopfung, welche in diesem Zusammenhang im Rahmen von Eingriffen im HNO-Bereich immer wieder als Risikofaktor genannt wird [5, 6]. Hierbei kann auch der Umfang der Abstopfung eine Rolle spielen. Auch die Kompression der Zunge selbst während der Laryngoskopie kann zu Schädigungen der distalen Nervenanteile führen [7]. Zerrungen können durch Überstreckung der Halswirbelsäule bei der Maskenbeatmung und Intubation infolge Überdehnungen über den seitlichen Anteil des Processus transversus von C1 entstehen [2]. Eher nicht den Bereich der Anästhesie berührend sind (chronische) Läsionen durch Kalzifikation des Lig. stylohyoideum (Eagle-Syndrom) und anatomische Veränderungen im Bereich der Schädelbasis [1]. Da sich der N. hypoglossus im seitlichen Halsbereich im Bogen (Arcus nervi hypoglossi) über die Äste der A. carotis externa nach medial zur Muskulatur der Zunge hinbewegt, kann eine Hypoglossusparese ein Begleitsymptom und wichtiges Indiz einer Karotisdissektion sein. Kommt es dabei zu einer Mitbeteiligung des N. vagus, zeigt sich dies klinisch in einer koinzidenten Stimmbandlähmung (Tapia-Syndrom) [5,6,7]. Die im Zusammenhang mit Anästhesie relevanten Kausalzusammenhänge listet Tab. 1 auf.

Tab. 1 Aufstellung anästhesieassoziierter Kausalzusammenhänge zur Hypoglossusparese

Das Körpergewicht des Patienten kann ein prädisponierender Faktor sein, denn sowohl bei Übergewicht als auch bei kachektischen Patienten kann es zu erschwerter Maskenbeatmung und Intubation mit potenziellen Folgeschäden kommen [1]. Dementsprechend finden sich, vergleichbar dem vorliegenden Fall, auch reine Masken- bzw. Larynxmaskennarkosen unter den Fallbeschreibungen transienter anästhesieassoziierter Hypoglossusparesen, wenn auch selten [4]. Berichtet wird dabei meist von einer erschwerten Maskenhaltung, z. B. bei Laryngospasmus oder Adipositas, oder besonderen anatomischen Verhältnissen mit Nutzung von Guedel-Tubus und festem Esmarch-Handgriff [3, 4, 8]. Dies kann zur Kompression des Nerven unterhalb des Kieferwinkels während der Maskenbeatmung führen [2]. Es scheint dabei die linksseitige Parese häufiger aufzutreten als die der rechten Seite, analog zu dem meist mit der linken Hand durchgeführten C‑Griff [4]. Ferner wird während der Laryngoskopie die Zunge von rechts nach links mobilisiert, wobei mit dem Spatel des Laryngoskops Druck auf die linksseitige Zungenmuskulatur ausgeübt wird [7].

Im vorliegenden Fall können Larynxmaske, Laryngoskopie oder der Tubus selbst als auslösende Ursachen ausgeschlossen werden. Die Beatmungsmaske wurde mit der linken Hand gehalten, die Parese rechtsseitig diagnostiziert, somit entfällt auch der u. U. zu feste Handgriff zum Kieferwinkel als möglicher Grund. Retrospektiv scheint tatsächlich die länger dauernde Reklination im Rahmen der Maskenventilation in Kombination mit einer ungünstigen Lagerung, auf welche wir aus dem Hinweis der Patientin auf das unbequeme Liegen schließen, ursächlich für den eingetretenen Nervenschaden zu sein. Dabei ist die „länger dauernde Reklination“ sicherlich als relativ einzustufen, sollte doch eine Dauer von 10 min für die meisten Patienten objektiv unproblematisch sein. Möglicherweise lag bei unserer Patientin eine individuelle Empfindlichkeit für das Eintreten eines derartigen Nervenschadens vor, und u. U. hätte eine präanästhesiologische dezidierte Befragung nach HWS-Problemen hier im Vorfeld Aufschluss gegeben. Außerdem wäre möglicherweise doch die Verwendung von Hilfsmitteln wie Wendl- oder Guedel-Tubus protektiv gewesen, hätte dies doch ggf. eine übermäßige längere Reklination verzichtbar gemacht oder zumindest reduziert.

Tritt postoperativ eine periphere Hypoglossusparese auf, so sollte, parallel zur Ursachendiagnostik, die Atmung überwacht werden [2]. Eine medikamentöse Therapie mit Kortikosteroiden kann bei Schwellungen hilfreich sein. Die Gabe antiinflammatorischer Medikamente und von Vitamin E- sowie -B-Komplex-Präparaten über mehrere Tage wird empfohlen, eine Evidenz hierzu gibt es jedoch nicht [1]. Wichtig scheint der frühzeitige Beginn einer logopädischen Behandlung zur Kräftigung der Zungenmuskulatur (Sprech- wie Schlucktraining) zu sein [1,2,3, 7].

Die Prognose ist allgemein gut. Bei extrakraniellen Paresen des N. hypoglossus handelt es sich meist um neurapraxische Läsionen, bei denen Axon und Hüllgewebe erhalten bleiben. Beobachtet wurden allerdings Regenerationszeiträume von bis zu einem Jahr [1, 2, 4, 8]. Bei Paresen infolge intraoraler und pharyngealer Alteration kann es in bis zu 20 % der Fälle zu einer nur teilweisen Erholung kommen [2]. Eine derartige Komplikation stellt zwar primär keine lebensbedrohliche Situation dar, doch hat sie für die Betroffenen gravierende Auswirkungen durch die Unfähigkeit, verständlich zu sprechen, sowie durch deutliche Einschränkungen bei der Nahrungsaufnahme. Beschrieben sind teilweise dramatische Gewichtsverluste [2].

Fazit für die Praxis

Zum Schutz vor Läsionen des N. hypoglossus sollte im Rahmen der präanästhesiologischen Untersuchung dezidiert nach HWS-Problemen als Hinweis auf eine individuelle Empfindlichkeit bei der Reklination gefragt werden. In solchen Fällen ist insbesondere auf die sorgfältige Lagerung zu achten. Selbst kürzere Phasen stärkerer Reklination bzw. die Kompression der Halsweichteile können Läsionen zur Folge haben, weshalb Hilfsmittel wie Wendl- oder Guedel-Tubus entsprechend Verwendung finden sollten.