Während Ärzte Patienten ohne Weiteres schon bei leichten Erkältungssymptomen krankschreiben, arbeiten sie mit den gleichen Krankheitszeichen wie selbstverständlich weiter. Diese Einstellung muss sich ändern - zum Wohl der Ärzte, aber auch ihrer Patienten.

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Zumindest bis zur Corona-Pandemie war Fieber für viele Ärzte kein Grund, nicht zu arbeiten.

Das Genfer Gelöbnis wurde 2017 neu gefasst. Dort heißt es nun in der offiziellen Übersetzung: "Ich werde auf meine eigene Gesundheit, mein Wohlergehen und meine Fähigkeiten achten, um eine Behandlung auf höchstem Niveau leisten zu können." Leider fällt es uns Ärzten schwer, uns um uns selbst zu kümmern. Dies zeigt sich etwa in der weitverbreiteten Selbstdiagnostik und Selbsttherapie, die immer wieder dazu führen, dass schwerwiegende Erkrankungen falsch oder zu spät diagnostiziert und nicht angemessen behandelt werden.

Einer der Gründe für den medizinisch schwierigen Umgang mit uns selbst liegt in den hohen Erwartungen, die wir an uns haben. Darunter fällt der Anspruch, zumindest im eigenen Spezialgebiet alles zu wissen und keine Fehler zu machen, aber auch eine hohe kommunikative Kompetenz aufzuweisen und zu Patienten immer freundlich, gelassen und zugewandt zu sein. Wir wollen gesund, wirtschaftlich und auch außerhalb des Berufs hoch erfolgreich sein, eine glückliche Ehe führen, engagierte Eltern sein, soziales Engagement zeigen und anspruchsvollen Hobbies nachgehen. Selbstverständlich handelt es sich dabei um eine "mission impossible", da diese Ziele schlicht nicht kompatibel sind und die erforderlichen Rollenkombinationen unmöglich in einer Person zu vereinbaren sind.

Dies zeigt sich besonders deutlich bei der Frage, mit welchen Krankheiten man als Arzt arbeitsunfähig ist. Über 80 % der Kollegen arbeiten mit Erkältungskrankheiten (für die sie ihre Patienten ohne zu zögern krankschreiben würden). Dabei stellt sich die Frage, inwieweit die Erkrankung die Leistungsfähigkeit einschränkt, etwa in Bezug auf operative Eingriffe oder schwierige Differentialdiagnosen. Zudem ist ein Arzt mit Infektionskrankheit eine Gefährdung für den Patienten.

Typische Kasuistik

Folgende Kasuistik mag typisch sein: Ein 40-jähriger Orthopäde holte ein internistisches Konsil ein. Bei einem 80-jährigen Patienten war eine Fußoperation geplant. Der Patient war am Vortag aus dem Urlaub in Ghana zurückgekommen und hatte vor einer Woche eine Zahnextraktion erhalten. Die Fragestellung des Konsils lautete, ob man die Operation nicht verschieben sollte, zumal der Patient noch eine Malariaprophylaxe einnimmt. Der Internist verneinte ein Operationshindernis, die Operation wurde (erfolgreich) durchgeführt. Am Folgetag stellte sich heraus, dass sich der Chirurg am Vortag den kleinen Finger der rechten Hand gebrochen hatte, unter starken Schmerzen litt und das Skalpell nur mit links halten konnte. Er akzeptierte seine eigene Einschränkung jedoch nicht als Grund dafür, die Operation zu verschieben.

Mit welchen Erkrankungen würden Sie sich als "unfit for work" fühlen, beziehungsweise mit welchen Krankheiten können wir noch hinreichend funktionieren? Erkältung? Kopfschmerzen? Fieber? Durchfall? Ein neu diagnostiziertes Malignom? Urämie?

Für alle diese Erkrankungen habe ich Ärzte erlebt, die sich bestenfalls widerwillig davon abhalten ließen, weiterzuarbeiten. Auch findet sich oft weder im Krankenhaus noch in der Praxis jemand, der den kranken Kollegen heimschickt.

Ärztlicher Präsentismus als "Public health hazard"

In einer Publikation aus dem Jahre 2010 von Eric Widera et al. wurde dieser ärztliche Präsentismus als Gefahr für die öffentliche Gesundheit ("public health hazard") bezeichnet. Das betrifft mindestens 80 % der Ärzte. In den wenigen Publikationen, die es dazu gibt, konnte weder ein Geschlechterunterschied, noch eine Fachgruppenabhängigkeit nachgewiesen werden, auch wenn gerade Chirurgen besonders stolz darauf sind, auch mit erheblichen Einschränkungen noch funktionsfähig zu sein ("Nur die Harten kommen in den Garten").

Gründe für dieses Verhalten untersuchten Kelsie Cowman et al. im Jahr 2019. Sie fanden "positive" Gründe wie eine hohe Arbeitszufriedenheit (der Arztberuf als "high rewarding job"), eine hohe Identifikation und entsprechend hohes Engagement sowie ein ausgeprägtes Teambewusstsein neben dem Verantwortungsgefühl für den Patienten. "Negative" Gründe waren aus Sicht der Autoren etwa die Personalknappheit und hohe Arbeitslast sowie wirtschaftliche Gründe wie befristete Verträge oder der Verdienstausfall in einer Praxis. Eine Auszeit zur Genesung war dadurch "eigentlich" nicht möglich, da kein anderer die Aufgabe übernehmen konnte. Mit zunehmender Berufserfahrung verstärken sich diese Mechanismen eher (Tab. 1).

Tab. 1 : Warum Ärzte auch krank arbeiten

Während in der Klinik in der Regel Kollegen einen kranken Mitarbeiter (zumindest theoretisch) ersetzen können, ist die Situation in der Praxis vielleicht noch schwieriger. Bei einer Einzelpraxis ist eine krankheitsbedingte Praxisschließung nahezu unmöglich. Schon das Ab- oder Umbestellen von Patienten ist extrem aufwendig und eine kurzfristige Terminabsage ist natürlich Negativwerbung. Häufig ist auch keine Ausfallversicherung vorhanden. In einer Gemeinschaftspraxis führt krankheitsbedingtes Fehlen obligat zur Überlastung der verbliebenen Kollegen. Hinzu kommt, dass viele Patienten lange auf einen Termin gewartet und möglicherweise einen langen Anreiseweg haben sowie für den Termin extra frei genommen haben. Viele Patienten wollen zwar nicht von einem kranken Arzt behandelt werden - gleichzeitig sind sie empört, wenn ihnen Dienste vorenthalten werden: Der Arzt dient hier oft als "Sonderwunscherfüllungsgehilfe". Im Kern ist der ärztliche Präsentismus also ein Konflikt zwischen widerstreitenden Werten - Fürsorge für Kollegen und Patienten versus Selbstfürsorge, verbunden mit dem Risiko, sich selbst, den Kollegen und den Patienten durch eigene Fehler oder Ansteckung zu schaden.

2001 bezeichnete Elin O. Rosvold krank arbeitende Ärzte als gefährliche Helden ("hazardous heroes") und fand einen erschreckenden Anteil von weit über 50 % der Kollegen, die auch mit ansteckenden Erkrankungen ohne weitere Schutzmaßnahmen arbeiteten. Zu diesen Infektionskrankheiten zählten beispielsweise Norovirus-Infektionen, aber auch Influenza.

Zu der Frage, wie hoch das Risiko für Patienten ist, sich bei ihren kranken Ärzten anzustecken, gibt es faszinierenderweise praktisch keine Literatur. Allerdings erscheint es aus infektiologischer Sicht extrem unwahrscheinlich, dass eine Approbation vor der Weitergabe von Erregern schützt. Die aktuelle Corona-Pandemie macht dies in erschreckendem Maße deutlich. Nicht wenige Mediziner mussten ihren Einsatz für die Patienten mit dem Leben bezahlen: So starben bis Mitte März in Italien über 60 Kollegen, über 3.000 Mitarbeiter des Gesundheitswesens hatten sich infiziert. Auch in Deutschland sind bereits mehrere Ärzte nach Coronavirus-Infektion verstorben, die sie sich bei der Behandlung erkrankter Patienten zugezogen hatten. Gleichzeitig können Ärzte die Infektion als "Superspreader" verteilen. Dies ist möglicherweise einer der Gründe dafür, dass die Pandemie gerade dort, wo keine ausreichende Schutzauskleidung zur Verfügung gestellt werden konnte und wo ein Mangel an Corona-Tests bestand, außer Kontrolle geraten ist.

Impfschutz unter Ärzten unzureichend

Erschreckenderweise haben viele Ärzte Studien zufolge einen völlig unzureichenden Impfschutz, selbst für Erkrankungen wie Hepatitis B oder Influenza. Dabei schätzen diese Impfungen - gerade in Anbetracht der erhöhten Exposition - nicht nur dden Arzt Sie dienen auch dem Schutz vor einer nosokomialen Transmission auf vulnerable Patienten, dem Schutz vor einer Übertragung auf Kollegen und Angehörige und letztlich dem Schutz der Bevölkerung, idealerweise durch die Ausrottung der Erkrankung. Von daher sollte vor der Einführung einer allgemeinen Impfpflicht gegen Masern (die ich natürlich unterstütze) zunächst eine Impflicht für Angehörige des Gesundheitswesens eingeführt werden. Gründe für die eingeschränkte Wahrnehmung von Impfungen durch Ärzte sind in Tab. 2 aufgeführt. Sie weichen von den Gründen, die Patienten von Impfungen abhalten, signifikant ab.

Tab. 2 : Gründe dafür, dass sich Menschen nicht impfen lassen

Insgesamt arbeiten Ärzte regelmäßig trotz Krankheit aufgrund von inneren (Pflichtbewusstsein, Kollegialität) und äußeren (Unterbesetzung, fehlender Ersatz bei Ausfall) Gründen. Möglichkeiten, gerade die infektiologischen Risiken für sich selbst zu reduzieren (Impfen, aber auch Einsatz persönlicher Schutzausrüstung), werden nicht von allen Ärzten genutzt. Der ärztliche Präsentismus geht mit beträchtlichen Risiken für den Arzt aber auch für seine Patienten einher, auch wenn beide Effekte unzureichend untersucht sind.

Wer kann die beschriebenen Mechanismen ändern?

Bezüglich dieser Fragestellung ist es zunächst einfacher zu definieren, wer dies eher nicht tun wird. So wird eine Krankenhausleitung zunächst kein Interesse daran haben, dass Ärzte und Pflegekräfte nicht zur Arbeit kommen, wenn sie krank sind, da dies eine viel größere Personalvorhaltung erfordern würde. Gerade in den ersten Monaten der Corona-Krise haben wir in den Krankenhäusern erlebt, welche Personallücken entstehen, wenn nur Mitarbeiter mit Atemwegsinfekten von der Arbeit ferngehalten werden. Eine Einschränkung von Leistungen infolge von Personalausfällen erfolgt nach meiner Erfahrung nur in den seltensten Fällen. Dass dieses nicht nur dem wirtschaftlichen Druck in Krankenhäusern und bösen Geschäftsführern anzulasten ist, zeigen die Erfahrungen in Praxen, in denen eine Leistungseinschränkung auch oft nur das allerletzte Mittel sind, um auf Personalausfälle zu reagieren. Ärzte werden also weiterhin nicht damit rechnen können, aktiv nach Hause geschickt zu werden, wenn sie krank sind.

Ein Bewusstseinswandel kann also nur individuell und strukturell erfolgen. Eine individuelle Lösung beginnt mit der Erkenntnis, dass man selbst ersetzbar ist und dass Krankheit zum Leben eines Arztes ebenso dazugehört wie zum Leben der Patienten: Krankheit muss als planbarer Notfall verstanden werden, auf den man sich vorbereiten kann - natürlich sinnvollerweise dann, wenn man noch gesund ist. Hierzu zählt, dass man für sich selber Grenzen zieht, also etwa nicht arbeitet, wenn man Fieber hat. Schließlich müssen wir im kollegialen Miteinander von einer Kultur wegkommen, in der krank zu arbeiten als heldenhaft empfunden wird und nicht als unprofessionell.

Auf der strukturellen Ebene müssen wir zu einer Personalvorhaltung kommen, die krankheitsbedingte Ausfälle mit einplant. Für diese Personalvorhaltung ist die Geschäftsführung verantwortlich. Darüber hinausgeheende Personalausfälle müssen zu Leistungsreduktion führen. Hierzu müssen vom Arbeitgeber klare Vorgaben formuliert werden, die die gelebte Praxis sanktionieren, auch krank zu arbeiten.

Auch in der Praxis muss für einen krankheitsbedingten Ausfall vorgesorgt werden. Dies umfasst Versicherungen zum Absichern eines Betriebsausfalls ebenso wie vorbereitete Texte für die Medizinische Fachangestellte im Falle einer krankheitsbedingten Terminabsage. Sehr hilfreich ist auch eine kollegiale Absprache mit Vertretungsregelungen. So ist es etwa in Norwegen der Standard, dass in jeder Kommune ein Pool von Vertretungsärzten vorgehalten wird, die im Notfall einspringen können.

Alle Ärzte sollten zu einem pfleglichen Umgang mit ihren persönlichen Ressourcen kommen und Situationen, die einen "120 %igen" Einsatz erfordern, vermeiden. Hierfür benötigen wir neue gemeinsame Werte, wie sie unter anderem im Genfer Gelöbnis gefordert werden. Als mein subjektiver Vorschlag wären folgende neuen Werte zu nennen:

  • hohe fachliche Kompetenz auf dem jeweiligen Gebiet

  • hohe Flexibilität und Änderungsbereitschaft

  • Medizin ist Teamarbeit - wir denken und arbeiten in Netzwerken.

  • wissenschaftlich fundierte "Schulmedizin"

  • Selbstwahrnehmung (Achtsamkeit) und Selbstfürsorge sind zwingend.

  • klare politische Forderungen: ausreichende Personalstärke, zwingende Vertretungskonzepte, Verantwortung von Geschäftsführern

  • fokussieren auf ärztliche Ziele (der Patient steht im Mittelpunkt)

  • Das Arztleben ist ein Marathonlauf, kein Kurzstreckensprint!

Wir wollen keine Helden sein, sondern perspektivisch eine lange Berufstätigkeit für uns selbst und für unsere Familien erfolgreich bewältigen. Wir sollten nicht zögern, unsere kranken Kollegen nach Hause zu schicken (auch wenn dies manchmal mühsam ist). Ein anderer wird dies im Zweifel nicht tun!

Fazit

Über 80 % der Ärzte arbeiten auch, wenn sie krank sind. Dabei ist es unethisch, krank zu arbeiten, weil es mit hohen Risiken sowohl für den Patienten als auch den Arzt selbst einhergeht. Die Erkrankung eines Arztes ist kein Hinweis auf eigenes Versagen - wir müssen uns daher nicht für die eigene Krankheit entschuldigen! Jeder Arzt muss für sich festlegen, was seine Grenze für "unfit for work" ist (z. B. Fieber oder Durchfall, aber auch Erkrankungen der Kinder). Angehörige und Kollegen müssen diese Grenze durchsetzen. Die Dienstvorgesetzten tragen Verantwortung für kranke Mitarbeiter. Jedes Krankenhaus und jede Praxis muss für krankheitsbedingte Ausfälle von Mitarbeitern Vorsorge treffen. Schließlich sind weitere wissenschaftliche Studien zum Thema notwendig.