Im Jahr 2017 erschien im The Lancet eine beachtenswerte Serie unter dem Titel „Right Care“ [1,2,3, 5]. Einer dieser Beiträge widmete sich dem weltweiten übermäßigen Einsatz medizinischer Leistungen („overuse of medical services“; [1]). Dabei wird klar, dass eine Übertherapie schwierig zu messen und auch nicht genau definiert ist. Übertherapie bzw. der übermäßige Einsatz medizinischer Leistungen (Screening, Diagnostik, Medikamente, Prozeduren etc.) kann im weitesten Sinne als Gesundheitsversorgung oder Behandlung definiert werden, die nicht zu einer nennenswerten Verbesserung der Lebensqualität und -quantität führt, mehr Schaden als Benefit verursacht oder von Patienten, die umfänglich über Nutzen und Schaden informiert wurden, nicht gewollt wurde [1]. Übertherapie führt zu körperlichen, psychischen und sogar finanziellen Belastungen bzw. Schäden bei den betroffenen Patienten, lenkt in nicht unerheblichem Ausmaß die Ressourcen im Gesundheitssystem und Sozialausgaben um und wird in nahezu allen Bereichen der Medizin beobachtet [1].

Das Risiko einer Überversorgung bzw. Übertherapie ist in der Intensivmedizin der Industrienationen, aber v. a. in Deutschland außerordentlich hoch. Die technischen Möglichkeiten haben sich hier in den letzten Jahren rasant weiterentwickelt. Beispielhaft seien extrakorporale Herz-Kreislauf-Unterstützungssysteme genannt, die mittlerweile nahezu flächendeckend zum Einsatz kommen, obwohl robuste Daten randomisiert kontrollierter Studien zur Effektivität in Bezug auf harte Endpunkte bei den allermeisten Krankheitsbildern fehlen. Ebenfalls beobachten wir in Deutschland seit mehreren Jahren eine exponentielle Zunahme außerklinischer Beatmungsfälle, die neben den erheblichen ökonomischen Auswirkungen auch ethische Fragen aufwerfen [4].

Dieser Themenschwerpunkt in der Zeitschrift Medizinische Klinik – Intensivmedizin und Notfallmedizin wurde konzipiert, um aus verschiedenen Blickwinkeln die Aufmerksamkeit der Leserinnen und Leser auf dieses brisante Thema „Übertherapie in der Intensivmedizin“ zu lenken. In einem Übersichtsbeitrag gehen W. Druml et al. (https://doi.org/10.1007/s00063-019-0548-9) auf die verschiedenen Aspekte der Übertherapie in der Intensivmedizin ein und betonen, dass alle Bereiche der Intensivmedizin betroffen sind. Gerade am Lebensende wird immer wieder der Einsatz einer sinnlosen Therapie beobachtet. Auch in der Intensivpflege tritt das Phänomene einer „Überpflege“ in der Praxis tatsächlich häufig auf, wird aber selten in der Literatur berichtet. Der Beitrag von M. Wohlmannstetter (https://doi.org/10.1007/s00063-019-0530-6) belegt, dass auch Überpflege konkrete, negative Auswirkungen auf den Zustand von Patienten haben kann. Eindringlich weisen C. Karagiannidis et al. (https://doi.org/10.1007/s00063-019-0533-3) auf die Probleme der extrakorporalen Lungen- und Herz-Lungen-Ersatzverfahren (ECMO) hin: Hier besteht immer wieder eine Diskrepanz zwischen der technischen Machbarkeit und einer patientenzentrierten Therapie, die sich sehr streng an ethischen Grundprinzipien ausrichten sollte. Auch hämatologisch-onkologische Patienten werden zu Recht immer häufiger auf einer Intensivstation behandelt. Ausdrücklich betonen M. Kochanek et al. (https://doi.org/10.1007/s00063-019-0532-4) dass wie bei allen Patienten auch in diesem Kollektiv eine klare ärztliche Indikation die Voraussetzung für eine intensivmedizinische Behandlungsoption darstellt und gleichzeitig auch die Grenzen einer solchen Intensivtherapie im Vorfeld gemeinsam mit den Patienten und Angehörigen ausgelotet werden müssen. Übertherapie ist nicht nur für Patienten eine Belastung und kann Schaden verursachen – auch im Behandlungsteam kann die Wahrnehmung einer Übertherapie zu Burn-out bis hin zur Kündigung und bei Angehörigen zu erheblichen Langzeitfolgen mit Angst und Depression führen, wie D. Schwarzkopf (https://doi.org/10.1007/s00063-019-0531-5) in seinem Beitrag eindrucksvoll darstellt. Last, but not least verweist G. Duttge (https://doi.org/10.1007/s00063-019-0545-z) auf die relevanten juristischen Implikationen einer Übertherapie und gibt den Ratschlag, das klinische Feld systematisch nach typischen Anwendungsfällen „nutzloser“ bzw. „unangemessener“ Behandlungsmaßnahmen zu sondieren.

Es ist gelungen, ein hochaktuelles und spannendes Themenheft zusammenzustellen, das Sie, die Leserinnen und Leser, nicht nur in den Bann ziehen, sondern Ihnen sicherlich Anlass geben wird, im klinischen Alltag noch mehr als bisher auf eine Übertherapie zu achten. Nur das Erkennen und Benennen einer Übertherapie wird dazu führen, dass Belastung und Schaden von Patienten, Angehörigen aber auch dem Behandlungsteam abgewendet wird.

Wir dürfen uns bei den Autoren ganz ausdrücklich für die exzellenten Beiträge bedanken und wünschen den Leserinnen und Lesern eine aufschlussreiche Lektüre!

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Uwe Janssens, Eschweiler

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Wilfred Druml, Wien