Zusammenfassung
Schlegels Lucinde und ihre Aufnahme durch Schleiermacher und Kierkegaard haben einen gemeinsamen Bezugspunkt in der Frage nach dem ethischen Sinn eines “poetischen Lebens.” Die kontroversen Antworten spiegeln typische Lösungen einer spezifisch neuzeitlichen Problematik. Daher bleiben die Texte heute unmittelbar lebensrelevant.
Abstract
Schlegel’s Lucinde and its reception by Schleiermacher and Kierkegaard have one common point of reference: the ethical basis of a “poetic life.” The controversial answers mirror typical solutions to a specifically modern issue. Therefore the texts remain vital until today.
Literature
Vgl. Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hrsg. von E. Behler u.a. (1958ff.), Bd. V., Kommentarteil S. XLVI–LIV. Hier: S. LI. Für eine Auseinandersetzung mit Gehalt, Struktur und Wirkung ist die Einleitung H. Eichners noch immer unerläßlich. Friedrich Schlegels Werke werden im folgenden unter der Sigle KA zitiert.
Friedrich Schleiermacher, Vertraute Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde, in Lucinde von Friedrich Schlegel, eingeleitet von R. Frank (1907). Im folgenden zitiert als VB.
Sören Kierkegaard, Über den Begriff der Ironie: Mit ständiger Rücksicht auf Sokrates (1976). Im folgenden zitiert als Ir.
So Eichner in seiner Einleitung zu KA, V, S. XLVI. Zu Dilthey vgl. Leben Schleiermachers, Ges. Schriften, Bd. XIII/1 (1970), S. 503, 505, 511, 514. Weiterhin die grundlegende Schrift von Paul Kluckhohn, Die Auffassung der Liebe in der Literatur des 18. Jahrhunderts und in der Romantik (1922), S. 435–460.
Monographisch hat sich zum Thema Gerhard vom Hofe, Die Romantikkritik Sören Kierkegaards (1972), bes. S. 131–184, geäußert, der auch die Literatur bespricht (S. 10–28). Siehe weiter Walter Rehm, Kierkegaard und der Verführer (1949), S. 44, 46; Gustav Beckers, “Versuche zur dichterischen Schaffensweise deutscher Romantiker,” Acta Jutlandica, 33, Supp. (1961), 27f.; Hans Eichner, KA, V, S. LIV; Hannelore Schlaffer, “Frauen als Einlösung der romantischen Kunsttheorie,” Jb. d. deutschen Schillergesellschaft, 21 (1977), 284, Anm. 16: Kierkegaards “moralistische Kritik” an Schlegel sei “geboren aus dem moralischen Standpunkt des Bürgertums, den Schlegel, ohne daß es Kierkegaard und seine Epigonen bemerkten, thematisiert und aufheben will.”
Gisela Dischner, Friedrich Schlegels ‘Lucinde’ und Materialien zu einer Theorie des Müßiggangs (1980), S. 147. G. v. Hofe unterscheidet sich von den kritischen Positionen dadurch, daß er sich irenisch fur eine qualitative Trennung in zwei anthropologische Grundansätze ausspricht (S. 179f.), wie ähnlich schon Ingrid Strohschneider-Kohrs, Die romantische Ironie in Theorie und Gestaltung, 2. Auflage (1977), S. 221 f. Dies ist in der Tat das mindeste, was man wird sagen müssen.
Beda Allemann, Ironie und Dichtung (1956), S. 85 f. Auf diesen groben Klotz hat Helmut Fahrenbach, Die gegenwärtige Kierkegaard-Auslegung, Philosophische Rundschau, Beih. 3 (1962), S. 71 f., Anm. 39 einen groben Keil gesetzt: “Dieser Vorwurf beweist indessen nur, daß Allemann seinerseits Kierkegaards ‘Begriff der Ironie’nicht verstanden hat.”
KA, II, S. 182; vgl. auch Friedrich Schlegel, Literary Notebooks 1797–1801, hrsg. von H. Eichner (1957), Nrn. 1350, 1800
Vgl. Friedrich Schleiermachers Dialektik, hrsg. von R. Odebrecht (1976), S. 268; weiterhin F. Schleiermacher, Über die Religion: Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1969), S. 60, 70, im folgenden zitiert als Re; ders., Ästhetik, hrsg. von R. Odebrecht (1931), S. 18.
Friedrich Schleiermacher, Monologen, 3. Aufl. (1978), S. 82; im folgenden zit. Mo. Vgl. auch Dialektik, S. 298: “Auch der aus Nichts schaffende Weltschöpfer ist Künstler in Analogie mit dem Menschen; nur daß er sich zuerst seinen Stoff selbst macht.”
Zum allgemeinen metaphysischen Hintergrund dieser Geschichtsschau vgl. Hermann Timm, Die heilige Revolution (1978), S. 39ff. Da sich fur Schleiermacher Geschichte nicht in der Zeit erfüllt, weder relativ noch absolut, ist sein Denken in diesem Sinne jedenfalls keine Geschichtsphilosophie. Diesen Unterschied zu F. Schlegel hebt ganz richtigs
Eilert Herms, Herkunft, Entfaltung und erste Gestalt des Systems der Wissenschaften bei Schleiermacher (1974), S. 262–64, hervor. Daß auch der späte Schleiermacher es nur zu einer ‘anthropologisch begründeten Strukturtheorie der Geschichte’ bringt
belegt Wilhelm Gräb, Humanität und Christentumsgeschichte (1980), S. 178, s. a. 9, 12; zur Abdankung des seiner selbst mächtigen absoluten Subjekts bei Schleiermacher vgl. jetzt auch
Manfred Frank, Das individuelle Allgemeine (1977), S. 102ff., 111, 114.
Vgl. KB, S. 232f., 235ff., bes. 238, 244, 247–50. Schleiermacher beschränkt Zweideu-tigkeiten auf den Innenraum der Ehe, wo es denn auch keine eigentliche Schamlosigkeit geben kann. Gänzlich mißversteht diesen Gedanken leider Ludwig Marcuse, Obszön: Geschichte einer Entrüstung (1962), S. 108 f.
Sören Kierkegaard, Entweder/Oder, Erster Teil (1954), Zweiter Teil (1957). Im folgenden zitiert als E/O, I, II. Hier: E/O, II, S. 250.
Hier kommt natürlich Kierkegaards Abhängigkeit von Hegel und dessen Romantikkritik zum Tragen; auf beides kann hier nicht eingegangen werden. Vgl. zum Problemkomplex der Entzweiung aber die grundlegende Schrift von Joachim Ritter, Hegel und die französische Revolution (1965), S. 47, 49, 61, 70f. u. öfter. Vgl. zur Dialektik der Entzweiung bei Kierkegaard auch
Walter Schulz, Sören Kierkegaard: Existenz und System (1967), S. 13ff., 21, 31f.
Vgl. Hans Blumenberg, “Nachahmung der Natur: Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen,” in H. B., Wirklichkeiten, in denen wir leben (1981), S. 55–103.
Danieli Bell, Die Zukunft der westlichen Welt: Kultur und Technologie im Widerstreit (1976), S. 25, 28f.
Vgl. zu diesem Hintergrund auch Joachim Ritter, Art. “Ästhetik,” in Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. v.J. Ritter, Bd. 1 (1971), Sp. 555–580, bes. 564–572. Vgl. weiter Odo Marquard, “Kant und die Wende zur Ästhetik,” Zs.f.ph. Forschung, 16 (1962), 231–243, 363–374.
Bell, S. 13–206; Ralph-Rainer Wuthenow, Muse, Maske, Meduse: Europäischer Ästhetizismus (1978).
Vgl. Blumenberg, S. 93f.; Bell, S. 32–39. Zu nennen wäre hier auch Albert Camus groß angelegtes Werk, Der Mensch in der Revolte (1951). Eine wichtige Rolle für die beginnende Romantik und ihre Selbstkritik spielen aber auch die sog. Berglingerfragmente in Wilhelm Heinrich Wackenroders Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders (1797). Vgl. dazu Friedrich Strack, “Die ‘göttliche ‘Kunst und ihrer Sprache: Zum Kunst- und Religionsbegriff bei Wackenroder, Tieck und Novalis,” in Romantik in Deutschland, hrsg. v. R. Brinkmann, DVjs., Sonderband (1978), S. 372, 374.
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Dierkes, H. Friedrich Schlegels Lucinde, Schleiermacher und Kierkegaard. Dtsch Vierteljahrsschr Literaturwiss Geistesgesch 57, 431–449 (1983). https://doi.org/10.1007/BF03375961
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