Zusammenfassung
Mit Leibniz beginnt in den Bibliotheken die lange Geschichte der Verdrängung rhetorischer Wissensordnungen zugunsten eines Kalküls, der die Elemente des Wissens berechenbar machen wollte und in der virtuellen Bibliothek realisiert scheint. Daß aber in den Datenbanken nichts Relevantes mehr gefunden werden kann, ist das Menetekel der seit Lcibniz betriebenen Verfahrenstechnik des Wissens, die uns in der Befreiung von Irrelevantem eine technisch verfügbare Präsenz des Wissens versprach. Nach ihrem Scheitern bleibt einzig der Rückgang auf rhetorische Ordnungen des Wissens, wie sie in den Bibliotheken immer schon aufgebaut wurden.
Abstract
The displacement of the libraries’ old rhetorical order of knowledge with a calculus whose promises seem to be fulfilled in our modern ‘virtual’ libraries was initiated by Leibniz. But the portent is already visible today: instead of freeing us from redundant knowledge and giving us instant access to every truth, it is becoming more and more difficult to acquire relevant and reliable information. If the calculus is doomed to failure, the only key to solve the problems of information lies in the rhetorical order that libraries have always provided.
Lieterature
Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher; Heft J 861, Schriften und Briefe, hrsg. Wolfgang Promies, 6 Bde., München 1968, I, 772.
Vgl. Jürgen Mittelstraß, Peter Schröder-Heister, „Zeichen, Kalkül, Wahrscheinlichkeit. Elemente einer Mathesis universalis bei Leibniz“, in: Herbert Stachowiak (Hrsg.), Pragmatik. Handbuch pragmatischen Denkens, Hamburg 1986, 392–414.
Gottfried Wilhelm Leibniz, „Preceptes pour avancer les sciences“, Opera philo- sophica, hrsg. J. E. Erdmann, Aalen 1959 (Nachdr. d. Ausg. 1840), 165–171, hier: 169.
Gottfried Wilhelm Leibniz, Sämtliche Schriften und Briefe, hrsg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1927 ff. Zitiert werden Reihe, Band, Seitenzahl, hier: 1. Reihe, III, 16.
Gottfried Wilhelm Leibniz, „ Discours touchant la methode de la certitude et Part d’inventer“, Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz, hrsg. Carl Immanuel Gerhardt, 7 Bde., Hildesheim, New York 1978 (Nachdr. d. Ausg. Berlin 1875–1890), VII, 174–183, hier: 182.
Zu den scholastisch-theologischen Wurzeln der Leibnizschen Logik siehe Martin Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, Frankfurt am Main 1978, 54 ff. Vgl. auch Aron Gurwitsch, Leibniz. Philosophie des Panlogismus, Berlin, New York 1974, 23–27.
Evgenij I. Šamurin, Geschichte der bibliothekarisch-bibliographischen Klassifika- tion, 2 Bde., Leipzig 1964–1967, II, 142 f. Details zu Leibniz ‘bibliothekarischer Arbeit für Boineburg bei Uta Hakemeyer, „Leibniz ‘Bibliotheca Boineburgica“, Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie 14 (1967), 219–238.
Sybille Krämer, Symbolische Maschinen. Die Idee der Formalisierung in geschicht-lichem Abriß, Darmstadt 1988, 107.
Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann, Topica universalis. Eine Modellgeschichte humanistischer und barocker Wissenschaft, Hamburg 1983, 187–189.
Zum rhetorischen locus communis siehe Heinrich Lausberg, Elemente der literarischen Rhetorik, 5. Aufl., München 1976, §§ 393–399 und §§ 40–42.
Der Vollständigkeit halber muß man erwähnen, daß solche indizierenden Sequenzen natürlich auch über andere Elemente laufen können, etwa über die Erscheinungsjahre von Büchern. Daß Leibniz an eine solche Möglichkeit zwar dachte, einen chronologischen Katalog jedoch niemals verwirklichte (vgl. Heinrich Lackmann, „Leibniz ‘bibliothekarische Tätigkeit in Hannover“, in: Wilhelm Totok, Carl Haase [Hrsg.], Leibniz. Sein Leben, sein Wirken, seine Welt, Hannover 1966, 321–348, hier: 337), heißt nur, daß nicht jede Sequenz zu jeder Zeit sinnvoll bzw. technisch mit vertretbarem Aufwand möglich ist.
Friedrich Adolf Ebert, Die Bildung des Bibliothekars, 2., umgearb. Ausg., Leipzig 1820, 27.
Siehe dazu Vf., „Die vergebliche Suche nach dem Allgemeinen: 100 Jahre Höherer Dienst“, in: Hartwig Lohse (Hrsg.), Arbeitsfeld Bibliothek. 6. Deutscher Bibliothekskon-greß, Frankfurt am Main 1994, 39–50 und Vf., „Das Opfer der Schrift“, Wolfenbütteier Notizen zur Buchgeschichte 21 (1996), 166–184.
Bürger (Anm. 19), 63. Zu den Todesarten der Bibliothekare siehe die humoristische Darstellung von Gottfried Rost, Der Bibliothekar. Schatzkämmerer oder Futterknechtf, Leipzig 1990, 104–108.
Zit. n. Adolf Hilsenbeck, „Martin Schrettinger und die Aufstellung in der Kgl. Hof- und Staatsbibliothek München“, Zentralblatt für Bibliothekswesen 31 (1914), 407–433, hier: 424.
Martin Schrettinger, Versuch eines vollständigen Lehrbuches der Bibliothek-Wis- senschaft, oder Anleitung zur vollkommenen Geschäftsführung eines Bibliothekärs in wissenschaftlicher Form abgefaßt, 4 Hefte, München 1808–1829.
Albrecht Christoph Kayser, Ueber die Manipulation bei der Einrichtung einer Bibliothek und der Verfertigung der Bücherverzeichnisse nebst einem alphabetischen Kataloge aller von Johann Jakob Moser einzeln herausgekommener Werke, Bayreuth 1790, XIII f., 10.
Ilse Schunke, „Die systematischen Ordnungen und ihre Entwicklung“, Zentralblatt für Bibliothekswesen 44 (1927), 377–400, hier: 400 (Hervorh. U. J.).
Georg Leyh, „Statistik“, in: ders. (Hrsg.), Handbuch der Bibliothekswissenschaft, 3 Bde., Wiesbaden 1952–1961, II, 735–761, hier: 735.
Fritz Milkau, „Die Bibliotheken“, in: Die allgemeinen Grundlagen der Kultur der Gegenwart, 2., verb, und verm. Aufl., Berlin 1912, 580–631, hier: 609 f.
Georg Leyh, „Systematische oder mechanische Aufstellung“, Zentralblatt für Bibliothekswesen 31 (1914), 398–407, hier: 403.
Zu dem Erlaß siehe Hartwig Lohse, „Tote und ‚scheintote ‘Literatur. Miszellen zu einem bisher unbekannten Erlaß U I Nr. 43 vom 9.1.1905 von Fr. Althoff“, in: Gert Kaiser (Hrsg.), Bücher für die Wissenschaft. Bibliotheken zwischen Tradition und Fortschritt, München 1994, 143–157.
Die Beispiele nach David C. Blair, Language and representation in information retrieval, Amsterdam 1990, 105 f. Daß das mehr als graue Wahrscheinlichkeitstheorie ist, belegt eine in den USA durchgeführte empirische Studie, die zeigen konnte, daß Anwälte, denen eine Volltextdatenbank mit 40.000 Dokumenten zur Verfügung stand, nur 20% der für ihre Arbeit relevanten Dokumente finden konnten, obwohl sie selbst davon überzeugt waren, sie hätten 79% der relevanten Dokumente entdeckt. Siehe ebd., 87ff.
Vgl. Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, 96.
Siehe den hervorragenden Aufsatz von Jürgen Kaestner, „Online-Katalog und Re-gelwerk“, Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie 37 (1990), 21–30, hier: 23.
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Jochum, U. Die Bibliothek als locus communis. Dtsch Vierteljahrsschr Literaturwiss Geistesgesch 72 (Suppl 1), 14–30 (1998). https://doi.org/10.1007/BF03375514
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