Wie zahllose Phantasievorstellungen weckt das Lesen! Theodor Ziehen
Zusammenfassung
Die frühen Helden Benns, Rönne und Pameelen, sind nicht die Geschöpfe eines biographischen ‚Urerlebnisses ‘1916 in Brüssel, sondern das überaus komische Ergebnis der Bennschen Auseinandersetzung mit der Assoziationspsychologie seines akademischen Lehrers Theodor Ziehen und der weitgehend unbekannten Entwicklungspsychologie Semi Meyers. Auf Ziehen gehen ‚Nihilismus ‘und ‚Montagekunst‘, auf Meyer die Selbstlegitimation als Künstler zurück.
Abstract
The early heroes of Benn, Rönne and Pameelen, are not the creations of a very specific biographical situation in Brussels 1916, but the rather funny result of Benns engagement with the psychology of association of his university teacher Theodor Ziehen and the largely unknown psychology of development of Semi Meyer. To Ziehen ‘nihilism ‘and ‘Montagekunst‘, to Meyer the self-legitimation as an artist can be related.
Literature
Zitiert wird nach: Gottfried Benn, Sämtliche Werke, Bde. I–V hrsg. Gerhard Schuster, Bde. VI#x2013;VII hrsg. Holger Hof, Stuttgart 1986–2003 mit SW Bandzahl, Seitenzahl. Markierungen und Glossen Benns in den Büchern seiner im Deutschen Literatur Archiv in Marbach a. N. aufbewahrten Nachlaß-Bibliothek werden mit DLA zitiert.
Peter Uwe Hohendahl, „The Loss of Reality: Gottfried Benn‘s Early Prose“, in: Andreas Huyssen, David Bathrick (Hrsg.), Modernity and the Text. Revisions of German Modernism, New York 1989, 81–94, hier: 81.
Vgl. die ausführliche biographische Darstellung bei Hans Egon Holthusen, Gottfried Benn. Leben Werk Widerspruch 1886–1922, Stuttgart 1986, 179ff.
Über die zeitgeschichtlichen Hintergründe und die vor Ort reichlich versammelten Literaten orientieren Rainer Rumold, O.K. Werckmeister (Hrsg.), The Ideological Crisis of Expressionism. The Literary and Artistic German War Colony in Belgium 1914–1918, Columbia 1990
sowie Hubert Roland, Die deutsche literarische ‚Kriegskolonie ‘in Belgien 1914–1918. Ein Beitrag zur Geschichte der deutsch-belgischen Literaturbeziehungen 1900–1920, Bern u.a. 1999.
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So auch u.a. Else Buddeberg, Gottfried Benn, Stuttgart 1961, VI
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Michael Ansei, „Die Naturwissenschaften im Werk Gottfried Benns zwischen 1910 und 1933/34. Ein Rekonstruktionsversuch auf der Basis von Bourdieus Feldtheorie“, in: Martin Huber, Gerhard Lauer (Hrsg.), Nach der Sozialgeschichte. Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen Historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie, Tübingen 2000, 251–280, hier: 268.
Vgl. etwa Hans Kügler, „Wort und Wirklichkeit im Früh werk Gottfried Benns“, in: ders., Weg und Weglosigkeit. Neun Essays zur Geschichte der deutschen Literatur im zwanzigsten Jahrhundert, Heidenheim 1970, 51–75, hier: 51 (Wirklichkeitskrise) und Walther Killy, Wandlungen des lyrischen Bildes, 8. Aufl., Göttingen 1998 [zuerst 1956], 131 (Sprachkrise).
Vgl. Michael Hamburger, Reason and Energy. Studies in German Literature, London 1957, 286
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Martin Preiß, „… daß es diese Wirklichkeit nicht gäbe“. Gottfried Benns Rönne-Nov eilen als Autonomieprogramm, St. Ingbert 1999, 114.
Rainer Rumold, Gottfried Benn und der Expressionismus. Provokation des Lesers; absolute Dichtung, Königstein/Ts. 1982, 106.
Hans Albrecht Hartmann, „Gottfried Benn: ‚Morgue ‘und andere Gedichte“, in: Hans Vilmar Geppert (Hrsg.), Große Werke der Literatur. Eine Ringvorlesung an der Universität Augsburg 1994 11995, Bd.4, Tübingen, Basel 1995, 209–238, hier: 236.
Vgl. Wodtke (Anm. 12), 312; Rankl (Anm. 9), 377; Moritz Baßler, Die Entdeckung der Textur. Unverständlichkeit in der Kurzprosa der emphatischen Moderne 1910- 1916, Tübingen 1994, 152; Preiß (Anm. 12), 109ff.
Max Bense, „Über expressionistische Prosa“, in: Peter Uwe Hohendahl (Hrsg.), Benn — Wirkung wider Willen. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Benns, Frankfurt a.M. 1971, 228–231 [zuerst 1949], hier: 229.
Bruno Hillebrand, Artistik und Auftrag. Zur Kunsttheorie von Benn und Nietzsche, München 1966, 31.
Thomas Pauler, Schönheit und Abstraktion. Über Gottfried Benns ‚absolute Prosa‘, Würzburg 1992, 82.
Preiß (Anm. 12), 278. Ähnlich argumentieren u.a. Theo Meyer, „Gottfried Benn und der Expressionismus. Unter besonderer Berücksichtigung der Lyrik“, in: Bruno Hillebrand (Hrsg.), Gottfried Benn, Darmstadt 1979, 379–408, hier: 393
Brian Holbeche, „Gottfried Benn‘s »Karyatide« in the Context of His Early Poetry“, Seminar 16 (1980), 96–110, hier: 98f.; Rumold (Anm. 13), 117 und 121; Ulrich Meister, Sprache und lyrisches Ich. Zur Phänomenologie des Dichterischen bei Gottfried Benn, Berlin 1983, 29ff.; Ridley (Anm. 4), 139; Baßler (Anm. 15), 151
Augustinus P. Dierick, „‚Das Ich ist ein Phantom‘. The Crisis of Cartesianism and Its Transcendence in Myth in Gottfried Benn‘s Early Dramas“, in: Marianne Henn, Christoph Lorey (Hrsg.), Analogon Rationis. Festschrift für Gerwin Marahrens, Edmonton 1994, 357–387, hier: 367 und 372.
Vgl. Friedrich A. Kittler, Aufschreibesysteme 1800/1900, 2. Aufl., München 1987 [zuerst 1985], 246ff. Mit Kittlers Deutung setze ich mich unten detailliert auseinander.
Preiß (Anm. 12), 91 und Regine Anacker, Aspekte einer Anthropologie der Kunst in Gottfried Benns Werk, Würzburg 2004, 116 erwähnen Ziehen lediglich am Rande. Unabhängig von Kittler gelangt Miller (Anm. 6), 23 zu der punktgenauen These, daß sich „Rönne […] nicht den theoretischen Erörterungen Ziehens“ widersetzt, sondern ihnen vielmehr „erliegt“, verzichtet aber auf eine entsprechende Lektüre.
Gemeint ist ein — meist spätantikes — Blatt Pergament, dessen Ursprungstext aus ökonomischen Gründen getilgt wurde, allerdings ‚unter ‘den neuen Schriftzeichen weiterhin entziffert werden kann. Das Wort ‚Palimpsest ‘wird von der Intertextualitätstheorie als Metapher für die Beziehungen zwischen literarischen Texten verwendet (vgl. Gérard Genette, Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt a.M. 1993 [frz. 1982]), es läßt sich aber auf die Untersuchung der Wissenspolitik Benns übertragen.
Im Beitrag zur Geschichte der Psychiatrie (vgl. 5Will, 10) zitiert Benn aus Ziehens „Die Entwicklungsstadien der Psychiatrie“ (Berliner Klinische Wochenschrift 41 [1904], 777–780, hier: 780); in Medizinische Psychologie (vgl. SWIII, 22) vermutlich aus Ziehens Vortrag Über die allgemeinen Beziehungen zwischen Gehirn und Seelenleben (2.Auf., Leipzig 1902 [zuerst 1901]).
Theodor Ziehen, Psychophysiologische Erkenntnistheorie, 2. Aufl., Jena 1907 [zuerst 1898], 83.
Vgl. u.a. Wodtke (Anm. 12), 311; Gerhard P. Knapp, Die Literatur des deutschen Expressionismus. Einführung — Bestandsaufnahme — Kritik, München 1979, 88; Rumold (Anm. 13), 135 und Preiß (Anm. 12), 116.
Wilfried W. Dickhoff, Zur Hermeneutik des Schweigens. Ein Versuch über das Imaginäre hei Gottfried Benn, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1987 [zuerst 1984], 184.
Alfred Döblin, An Romanautoren und ihre Kritiker. Berliner Programm, Schriften zur Ästhetik, Poetik und Literatur, hrsg. Erich Kleinschmidt, Ölten, Freiburg 1989, 119–123, hier: 120.
Theodor Ziehen, „Theodor Ziehen“, in: Raymund Schmidt (Hrsg.), Die Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Bd. 4, Leipzig 1923, 219–236, hier: 220.
Neben der Selbstdarstellung Ziehens vgl. zur Biographie August Herbst, „Theodor Ziehens psychologische Erkenntnistheorie“, in: Harald Schwaetzer, Henrieke Stahl-Schwaetzer (Hrsg.), L‘homme machine? Anthropologie im Umbruch. Ein interdisziplinäres Symposion, Hildesheim u.a. 1998, 49–67, hier: 49ff.
und Wolfgang Holzapfel, „Theodor Ziehen und seine Konzeption einer physiologischen Psychologie“, in: Georg Eckardt (Hrsg.), Psychologie vor Ort — ein Rückblick auf vier Jahrhunderte. Die Ent-wicklung der Psychologie in Jena vom 16. bis 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. u.a. 2003, 229–265, hier: 229ff.
Hermann Schmidt, Die Kaiser Wilhelms-Akademie für das militärärztliche Bildungswesen von 1895 bis 1910. Festschrift zur Einweihung des Neubaues der Akademie, Berlin 1910 [ND Hildesheim u.a. 1995], 25f.
Fritz Munk, Das Medizinische Berlin um die Jahrhundertwende, hrsg. Klaus Munk, 2. Aufl., München u.a. 1979 [zuerst 1956], 88f.
Vgl. Theodor Ziehen, Das Gedächtnis. Festrede gehalten am Stiftungstage der Kaiser Wilhelms-Akademie für das militärarztliche Bildungswesen, 2. Dezember 1907, Berlin 1908. Der Text befindet sich zwar in Benns Bibliothek, ist aber an keiner Stelle angestrichen oder unterstrichen; zudem hat Benn die Seiten 1–22 und 33–50 nicht aufgeschnitten (vgl. DLA). Gehört haben kann er den Vortrag als Student natürlich trotzdem.
Vgl. Werner Rübe, Provoziertes Leben. Gottfried Benn, Stuttgart 1993, 214f.
(Ziehen) bzw. Kirk Charles Allison, Gottfried Benn‘s Medical Exotics: Proximities in Literature, the Body and Ethos, Phil. Diss. Minnesota 2000, 370 (Bonhoeffer).
Vgl. Rübe (Anm.48), HOf. und Christoph Hoffmann, „Literaturforschung. Über medizinische Schriften Gottfried Benns“, in: Bernhard J. Dotzler, Sigrid Weigel (Hrsg.), „fülle der combination“. Literaturforschung und Wissenschaftsgeschichte, München 2005, 319–341, hier: 336.
Vgl. Die Ätiologie der Pubertätsepilepsie (SW VII/1, 377ff., hier: 378 und 385) bzw. Th[eodor] Ziehen, „Les psychoses de la puberté“, in: A[ntoine] Ritti (Hrsg.), XIIIe Congrès international de médecine tenu à Paris du 2 au 9 août 1900, Bd. 8: Section de psychiatrie, Paris 1901, 10–29, hier: 26.
Richard Müller-Freienfels, Die Hauptrichtungen der gegenwärtigen Psychologie, Leipzig 1929, 8 f.
Johann Friedrich Herbart, Psychologie als Wissenschaft, neu gegründet auf Erfahrung, Metaphysik und Mathematik. Erster, synthetischer Theil, Königsberg 1824, V.
Gustav Theodor Fechner, Elemente der Psychophysik, 2 Bde., Leipzig 1860, 1, 8.
Hans Henning, Psychologie der Gegenwart, 2. Aufl., Leipzig 1931 [zuerst 1925], 8.
Zur Psychophysik vgl. Horst Gundlach, Entstehung und Gegenstand der Psychophysik, Berlin u.a. 1993
zu Fechners Metamorphose vgl. Gert Mattenklott, „Gustav Theodor Fechner“, in: ders., Blindgänger. Physiognomische Essais, Frankfurt a.M. 1986, 148–156.
Monika Fick, Sinnenwelt und Weltseele. Der psychophysische Monismus in der Literatur der Jahrhundertwende, Tübingen 1993, 49f.
Nicole D. Schmidt, Philosophie und Psychologie. Trennungsgeschichte, Dogmen und Perspektiven, Reinbek b.H. 1995, 11.
Vgl. Helmut E. Lück, Geschichte der Psychologie. Strömungen, Schulen, Entwicklungen, 3. Aufl., Stuttgart 2002 [zuerst 1991], 41 f. und 56ff.
Michael Sonntag, ‚Zeitlose Dokumente der Seele ‘— Von der Abschaffung der Geschichte in der Geschichtsschreibung der Psychologie“, in: Gerd Jüttemann (Hrsg.), Die Geschichtlichkeit des Seelischen. Der historische Zugang zum Gegenstand der Psychologie, Weinheim 1986, 116–142, hier: 131ff.; sowie Schmidt (Anm.57), 66ff.
Ulrich Herberhold, Theodor Ziehen. Ein Psychiater der Jahrhundertwende und sein Beitrag zur Kinderpsychiatrie, Med. Diss. Freiburg 1977, 141 und 11.
W[ladimir] I[ljitsch] Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus. Kritische Bemerkungen über eine reaktionäre Philosophie, Berlin 1971 [zuerst 1909], 221 und 226.
Gerhard Strube, Assoziation. Der Prozeß des Erinnerns und die Struktur des Gedächtnisses, Berlin u.a. 1984, 1.
Karl Bühler, Die Krise der Psychologie, Werke, hrsg. Achim Eschbach, Jens Kapitz- ky, Bd. 4, Weilerswist 2000 [zuerst 1927], 24.
Eckhard Lobsien, Kunst der Assoziation. Phänomenologie eines ästhetischen Grundbegriffs vor und nach der Romantik, München 1999, 13.
Th[eodor] Ziehen, Leitfaden der Physiologischen Psychologie in 15 Vorlesungen, 7. Aufl., Jena 1906 [zuerst 1891], III. Den vielfältigen Verzweigungen dieser Traditionslinie im 19. Jahrhundert kann hier nicht weiter nachgegangen werden; vgl. dazu die hervorragende Studie Lobsiens (Anm. 76).
Strube (Anm. 73), 20. Dementsprechend rekurriert auch Ziehen auf das prototypische Experiment Galtons; vgl. Th[eodor] Ziehen, Die Ideenassoziation des Kindes, I. Abhandlung, Berlin 1898, 3.
Bühler (Anm. 74), 23f. Gemeint ist Hermann Ebbinghaus, Über das Gedächtnis. Untersuchungen zur experimentellen Psychologie, Darmstadt 1971 [zuerst 1885].
Zu Freud vgl. Tilman J. Elliger, S. Freud und die akademische Psychologie. Ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte der Psychoanalyse in der deutschen Psychologie (1895-1945), Weinheim 1986
Ziehen (Anm. 77), 137. Zum Wachstafel-Topos vgl. Michael Hagner, Homo cerebralis. Der Wandel vom Seelenorgan zum Gehirn, Berlin 1997, 51.
C[arl] Gjustav] Jung, Diagnostische Assoziationsstudien, Gesammelte Werke, Bd.2: Experimentelle Untersuchungen, Ölten 1979, 11–500 [zuerst 1904/10], hier: 441.
Dieter Wellershoff, „Nachwort des Herausgebers zu Prosa und Szenen“, in: Gottfried Benn, Gesammelte Werke, hrsg. Dieter Wellershoff, Bd. 6: Stücke aus dem Nachlaß. Szenen, Wiesbaden 1968, 1622–1630, hier: 1624.
Richard Millington, „Pameelen in the Snow: Towards a Reading of Gottfried Benn‘s ‚Episode with Cocaine‘“, Seminar 40 (2004), 349–367 hat nachgewiesen, daß das Wort ‚Karandasch ‘nicht aus einer Brüsseler Reklame des Schweizer Stiftherstellers Caran d‘Ache stammen kann, weil die Markenbezeichnung erst 1924 eingeführt wurde. Vermutlich beziehe sich Benn auf den in Moskau geborenen, französischen Karikaturisten Emmanuel Poiré (1859–1909) und dessen Pseudonym ‚Caran d‘Ache‘, das die Schweizer Firma übernommen habe. Das Wort bezeichne auf jeden Fall ein Schreibwerkzeug und sei daher weniger „an antisignifier as an ultrasignifier“ (360). Auf Poiré hat schon Erhard Kaufmann, „Das Fremdwort in der Lyrik Gottfried Benns“, Zeitschrift für Deutsche Sprache 20 (1965), 33–49 und 141–177, hier 177 aufmerksam gemacht.
Miller (Anm.6), 63f. Gemeint ist Th[eodor] Ziehen, „Probleme der Entwicklung des Geistes. Die Geistformen, von Semi Meyer“, Neurologisches Centralblatt 33 (1914), 67–68.
Diesterweg zitiert hier Semi Meyer, Probleme der Entwicklung des Geistes. Die Geist formen, Leipzig 1913, 2 wörtlich.
Werner Rübe, „Gottfried Benn und die Medizin“, Materia medica Nordmark 57 (1966), 1–47, hier: 15.
Rübe (Anm. 48), 199. 163 Vgl L. Barat, „Les problèmes relatifs au développement de l‘esprit (Probleme der Entwickelung des Geistes), par Meyer (Semi)“, Journal de psychologie normale et pathologique 11 (1914), 419
G.-L. Duprat, „Semi Meyer — Probleme der Entwicklung des Geistes. Die Geistformen“, Revue philosophique de la France et de l‘étranger 11 (1914), 422–425 sowie Edward L. Schaub, „Probleme der Entwicklung des Geistes. Die Geistformen. Von Semi Meyer“, The Philosophical Review 25 (1916), 79–80.
Semi Meyer, Dur chschneidungs-Versuche am Nervus Glosso-pharygneus, Med. Diss. Berlin 1896, 30, 5 und 30. Die Ergebnisse der Arbeit hat Meyer zusätzlich in Kurzform publiziert
vgl. Semi Meyer, „Durchschneidungsversuche am Nervus Glosso-pharygneus“, Archiv für mikroskopische Anatomie 48 (1897), 143–145.
Semi Meyer, „Ueber eine Verbindungsweise der Neuronen. Nebst Mittheilungen über die Technik und die Erfolge der Methode der subcutanen Methylenblauinjection“, Archiv für mikroskopische Anatomie 47 (1896), 734–748, hier: 742.
Vgl. auch Semi Meyer, „Die subcutane Methylenblauinjection, ein Mittel zur Darstellung der Elemente des Centralnervensystems von Säugethieren“, Archiv für mikroskopische Anatomie 46 (1895), 282–290.
Olaf Breidbach, Die Materialisierung des Ichs. Zur Geschichte der Hirnforschung im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1997, 188. Vgl. zur Debatte insgesamt ebd. 183ff. — allerdings ohne Bezug auf Meyer. Auch Waldeyer ist ein Lehrer Benns an der Kaiser Wilhelms-Akademie gewesen, nicht aber Wilhelm His der Ältere: studiert hat Benn bei seinem gleichnamigen Sohn (1863–1934).
Semi Meyer, „Ueber die Function der Protoplasmafortsätze der Nervenzellen“, Berichte über die Verhandlungen der Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig. Mathematisch-physische Classe 49 (1897), 475–496, hier: 475.
Semi Meyer, „Ueber centrale Neuritenendigungen“, Archiv für mikroskopische Anatomie 54 (1899), 296–311, hier: 296.
Roberto Spreafico, Silvia De Biasi, Laura Vitellaro-Zuccarello, „The Perineuronal Net: A Weapon for a Challenge“, Journal of the History of the Neurosciences 8 (1999), 179–185, hier: 181. Der Artikel bietet eine gute Übersicht über die wissenschaftsgeschichtlichen Details. Das perizellulare Netz wird um 1930 vergessen und erst in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts wieder zum Gegenstand neurologischer Aufmerksamkeit.
Albrecht Bethe, „Ueber die Neurofibrillen in den Ganglienzellen von Wirbelthieren und ihre Beziehungen zu den Golginetzen“, Archiv für mikroskopische Anatomie (55) 1900, 513–558, hier: 524.
Zu Bethe vgl. K[arl] E. Rothschuh, „Albrecht Bethe (1872–1954)“, in: Kurt Kolle (Hrsg.), Grosse Nervenärzte, Bd. 3, Stuttgart 1963, 47–58, hier vor allem 54 f. So schlecht können Meyers Präparate nicht gewesen sein: Hundert Jahre später drucken Spreafico, De Biasi, Vitellaro-Zuccarello (Anm. 172), 183 eine seiner Abbildungen erneut ab. Das zeitgenössische Echo fällt jedoch anders aus. Eine Sammelrezension von [Paul] Schröder (Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 24 [1900], 167–168) bleibt in der Sache unentschieden, eine spätere Darstellung der Debatte aus retikularistischer Sicht erwähnt Meyer lediglich
vgl. Hans Held, Die Lehre von den Neuronen und vom Neurencytium und ihr heutiger Stand, Berlin, Wien 1929, 6.
Ausnahmen sind Semi Meyer, Der Schmerz. Eine Untersuchung der psychologischen und physiologischen Bedingungen des Schmerzvorganges, Wiesbaden 1906, 78
und Semi Meyer, „Die Entwicklung der Sinnesorgane und der Empfindungen“, Deutsche Psychologie 3 (1920), 41–57, hier: 41.
So der Praxisstempel auf dem Titelblatt des in der Universitätsbibliothek Münster befindlichen Exemplars von Semi Meyers Buch Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit (Langensalza 1921). Dieser Stempel ist die letzte biographische Spur; Meyers Todesdatum war nicht zu ermitteln.
F[riedrich] Schumann (Hrsg.), Bericht über den VI. Kongreß für experimentelle Psychologie in Göttingen vom 15. bis 18. April 1914, Leipzig 1914, 122.
Vgl. Semi Meyer, Übung und Gedächtnis. Eine physiologische Studie, Wiesbaden 1904
Semi Meyer, „Gedächtnis und Vererbung“, Archiv für Rassen- und Gesellschafts-Biologie einschließlich Rassen- und Gesellschafts-Hygiene 3 (1906), 629–645
Semi Meyer, „Die Psychologie der musikalischen Uebung“, Neue Musik-Zeitung 33 (1912), 1–4, 63–64, 128–130, 191–193, 271–273, 351–353, 371–373, 451–453
Semi Meyer, „Gibt es eine Übung außerhalb des Gedächtnisses?“, Zeitschrift für pädagogische Psychologie und Jugendkunde 14 (1913), 160–183
und Semi Meyer, „Psychologie der Kunst“, Neue Musik-Zeitung 35 (1914), 105–107.
Vgl. Semi Meyer, „Zum Traumproblem“, Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 53 (1909), 206–224.
Vgl. Semi Meyer, „Die Lehre von den Bewegungsvorstellungen“, Zeitschrift für Psychologie 65 (1913), 40–99.
Semi Meyer, Die Zukunft der Menschheit, Wiesbaden 1918, 13 und 15.
Semi Meyer, Die Geistige Wirklichkeit. Der Geist im Gefüge der Welt, Stuttgart 1925, 102 und 105.
Die Frage nach den Mechanismen der Evolution, d.h. die Richtigkeit der Darwinschen Theorie der natürlichen Zuchtwahl, ist um 1910 noch unbeantwortet; vgl. Peter J. Bowler, The Eclipse of Darwinism. Anti-Darwinian Evolution Theories in the Decades around 1900, Baltimore, London 1983. Benns Auseinandersetzung mit der Biologie, d.h. auch mit der Biologie Meyers, bleibt einer gesonderten Publikation vorbehalten.
Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, 3. Aufl., Berlin, New York 1975 [zuerst 1928], 310. Auf Parallelen zwischen Meyers und Arnold Gehlens (1904–1976) Begriff der Entlastung ‘macht Anacker (Anm. 32), 340ff. aufmerksam.
Zu Benns Auseinandersetzung mit der philosophischen Anthropologie vgl. Marcus Hahn, „Die Stellung des Gehirns im Leben. Gottfried Benn und die philosophische Anthropologie Max Schelers“, in: Ulrich Bröckling u.a. (Hrsg.), Disziplinen des Lebens. Zwischen Anthropologie, Literatur und Politik, Tübingen 2004, 87–110.
Klaus Theweleit, Buch der Könige, Bd.2x: Orpheus am Machtpol. Zweiter Versuch im Schreiben ungebetener Biographien. Kriminalroman, Fallbericht und Aufmerksamkeit, Basel, Frankfurt a.M. 1994, 151.
So auch Buddeberg (Anm. 9), 19; Wodtke (Anm. 12), 330; Fackert (Anm. 5), 74; Beatrice Halasi-Kun Maniak, Der Begriff Naturwissenschaft ‘in Benns frühen Werken, Phil. Diss. New York 1976, 97 sowie Pauler (Anm. 21), 78. Preiß (Anm. 12) meint hingegen, daß Rönne „im Kino […] ein Mittel zur Überwindung der belastenden Ordnung der bürgerlichen Welt“ (216) finde, obwohl ihm ausgerechnet diese Ordnung auf der Leinwand vorgeführt wird.
Vgl. Meyer (Anm. 152), 179ff. Zum philosophiegeschichtlichen Vorlauf der Unterscheidung im deutschen Idealismus vgl. Paul de Man, „Zeichen und Symbol in Hegels Ästhetik“, Die Ideologie des Ästhetischen, hrsg. Christoph Menke, Frankfurt a.M. 1993, 39–58 [zuerst 1982].
Der Wiederabdruck der Insel ist in den Gesammelten Schriften (1922) noch fest eingeplant, fällt aber Verlagsquerelen zum Opfer. In die Gesammelte Prosa (1928) und in den Band Frühe Prosa und Reden (1950) hat sie Benn dann nicht mehr aufgenommen. „Ich fand die Jnsel ‘immer eine der allermässigsten Sachen, die ich je publizierte“ (Gottfried Benn, Briefe an F. W. Oelze 1932–1945, hrsg. Harald Steinhagen, Jürgen Schröder, Frankfurt a.M. 1979, 237f.).
Holzapfel (Anm.43), 243 und 261. Historisch gesehen konstituiert sich das Wissen von den Gefühlen im Überlappungsraum von Psychologie, Philosophie und Kunst. Vgl. dazu Philipp Mayring, „Geschichte der Emotionsforschung“, in: Dieter Ulich, ders., Psychologie der Emotionen, Stuttgart, Berlin, Köln 1992, 11–27
Hinrich Fink-Eitel, Georg Lohmann (Hrsg.), Zur Philosophie der Gefühle, Frankfurt a.M. 1993 sowie Claudia Benthien, Anne Fleig, Ingrid Kasten (Hrsg.), Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle, Köln, Weimar, Wien 2000.
Ygl. u.a. Holger Hof, Montagekunst und Sprachmagie. Zur Zitiertechnik in der essayistischen Prosa Gottfried Benns, Aachen 1997, 231 ff. und Paul Requadt, „Gottfried Benn und das ‚südliche Wort‘“, in: Hillebrand (Anm.24), 153–176 (zuerst 1962).
Müller-Freienfels (Anm.52), 7, 8 und 28. Zum allgemeinen wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrund vgl. Anne Harrington, Die Suche nach Ganzheit. Die Geschichte biologisch-psychologischer Ganzheitslehren: Vom Kaiserreich bis zur New-Age-Bewegung, Reinbek b.H. 2002 (eng. 1996).
Lück (Anm. 58), 70. Vgl. die ausführliche Darstellung von Mitchell G. Ash, Gestalt psychology in German culture, 1890–1967. Holism and the quest for objectivity, Cambridge, New York, Melbourne 1995.
Richard Müller-Freienfels: Das Denken und die Phantasie. Psychologische Untersuchungen nebst Exkursen zur Psychopathologie, Aesthetik und Erkenntnistheorie, Leipzig 1916, 155.
Holzapfel (Anm. 43), 253f. Allerdings sucht er Ende der 20er Jahre Anschluß an die Charakterologie; vgl. Thjeodor] Ziehen, „Charakterologische Studien an Verbrechern“ Jahrbuch der Charakterologie 4 (1927), 195–209 und 5 (1928), 375–394 sowie Th[eodor] Ziehen, Die Grundlagen der Charakterologie. In 15 Vorlesungen dargestellt, Langensalza 1930.
Die Insel hat — bedingt durch Benns Verdikt — bemerkenswert wenige Leser gefunden. Hingewiesen sei auf die Interpretation von Angelika Manyoni, Consistency of Phenotype. A Study of Gottfried Benn‘s Views on Lyric Poetry, Bern u.a. 1983, 103ff. Die Novelle ende nicht in „disintegration“, sondern Rönne werde „from uncertainty to knowledge“ (103f.) geführt und realisiere „that rationality is the force congruent with the historical hour“ (105). Aufgrund welchen Wissens dies geschieht, bleibt ungeklärt.
Gottfried Benn, Ausgewählte Briefe, Wiesbaden 1957, 202ff.
Ziehen (Anm. 77), 186f. Vgl. den entsprechenden Abschnitt bei R[ichard] Wähle, „Bemerkungen zur Beschreibung und Eintheilung der Ideenassoziation“, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie 9 (1885), 404–432, hier: 415f.
Gemeint ist der Berliner Neurochirurg Fedor Krause (1857–1937), der die Schädeltrepanation in die Epilepsiebehandlung einführt; vgl. Norman H. Horwitz, „Fedor Krause (1857–1937)“, Neurosurgery 38 (1996), 844–848. Deshalb „markiert“ Picasso einen „Krampfanfall“ (SW VII/1, 45). Offen bleibt jedoch, warum er an der ‚,[r]echte[n] Stirnwindung“ (ebd.) operiert wird: Paul Broca und Carl Wernicke lokalisieren das Sprachzentrum auf der linken Seite. Regine Anacker tippt auf eine bewußte Verunkla- rung der „historische[n] Bezüge“ bzw. auf Picasso als Pameelens Spiegelgestalt „bis in seine körperliche Organisation hinein“ [Anm. 32,102f.]. Vielleicht hat sich Benn einfach nur vertan.
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Hahn, M. Assoziation und Autorschaft: Gottfried Benns Rönne- und Pameelen-Texte und die Psychologien Theodor Ziehens und Semi Meyers. Dtsch Vierteljahrsschr Literaturwiss Geistesgesch 80, 245–316 (2006). https://doi.org/10.1007/BF03374632
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