Zusammenfassung
Die Frage nach der Begründung für die Annahme eines handelnden Subjekts wird von Ronald Kurt sozialhistorisch beantwortet. Entsprechend skizziert er nachzeichnend die mitteleuropäische Ideengeschichte hin zu dem modernen Verständnis von Gesellschaft, in der die Individualität und das sich selbst bestimmende Subjekt den höchsten Wert im Alltag, in der Wissenschaft und in dem – hier exemplarisch behandelten Feld – der Sozialen Arbeit darstellten. Kurt prüft „drei Topoi soziologischen Denkens – die Theorie der Individualisierung, die Rationalisierungsthese und die Methode des Verstehens – auf ihre Relevanz für die Soziale Arbeit“. So macht er deutlich, welche Konsequenzen die die Gesellschaft prägende Individualisierung für die Professionalisierung sozialer Arbeit hat und implizit stellt er heraus, dass das moderne Individuum ein Produkt soziohistorischer Wechselwirkungen ist.
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Notes
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Goethe und Schiller beschrieben den Menschen als ein Selbstbildungsprojekt, in dem das Ich in seinen Veränderungsprozessen mit sich identisch bleibt – „So musst du sein/dir kannst du nicht entfliehen/…/Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt/Geprägte Form, die lebend sich entwickelt“ (Goethe 2007, S. 359). E.T.A. Hoffmann wiederum, die postmoderne Kritik am Identitäts-Begriff vorwegnehmend, entgrenzt die Ich-Identität durch Nicht-Identität. In den Elexieren des Teufels zerfließt das Ich im Zugriff auf sich selbst. „Mein eignes Ich zum grausamen Spiel eines launenhaften Zufalls geworden, und in fremdartige Gestalten zerfließend, schwamm ohne Halt wie in einem Meer all´ der Ereignisse, die wie tobende Wellen auf mich hineinbrausten. – Ich konnte mich selbst nicht finden. (…) Ich bin das, was ich scheine, und scheine nicht das, was ich bin, mir selbst ein unerklärlich Rätsel, bin ich entzweit mit meinem Ich“ (Hoffmann 2003, S. 59).
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Zu den vorwissenschaftlichen Erscheinungsformen dieser Selbstthematisierungskultur zählt Alois Hahn den Funktionswandel der Beichte: „HAHN zeigt, wie sich die Beichte bereits ab dem 12. Jahrhundert immer weiter weg entwickelt von einem Sakrament, das von einzelnen Taten entlastet, und immer mehr zu einer Institution wird, die zur systematischen Selbstbeobachtung und Selbstkontrolle anhält und so zunehmend das gesamte Leben in den Blick nimmt, wodurch – wie er es ausdrückt – gewissermaßen als Urform der Biographie die Sündenbiographie entsteht“ (Wohlrab-Sahr 1997, S. 29).
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Es sei denn, man sieht, wie Ronald Lutz, Soziale Arbeit einseitig als Aufklärungsarbeit im Projekt Moderne an. Das Mandat Sozialer Arbeit „im Projekt der Moderne ist: Menschen zu unterstützen ihr Leben in der Moderne selbstverantwortlich zu führen“ (Lutz 2011, S. 56).
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Die Trägerschicht dieser Art von Rationalismus war das gebildete Bürgertum. Reflexion war ihr kulturelles Kapital. Darauf, dass die in bildungsbürgerlichem Denken fundierte Soziologie dazu neigt(e), ihre herkunftsbedingte Reflexivität in Form der Unterstellung von Gründen, Entwürfen und Zweck/Mittel-Kalkulationen in den Kopf des Alltagsmenschen hineinzuprojizieren, hat Armin Nassehi hingewiesen (vgl. Nassehi 2011, S. 135). Davon gleich mehr.
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Der Anschlussfrage, ob bzw. in wie weit die Auffassung vom Menschen als animal rationale auch das Menschenbild der Theorien und Methoden Sozialer Arbeit geprägt hat, wende ich mich im Folgenden nicht systematisch, sondern nur in einigen Randbemerkungen zu.
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Die einseitige Fokussierung auf die insbesondere auf Salomon und Richmond zurückgehende Methode der sozialen Einzel(fall)hilfe ergibt sich aus der Fragestellung und dem Bezugsrahmen dieser Studie. Die beiden anderen klassischen Methoden der Sozialen Arbeit, die soziale Gruppenarbeit und die Gemeinwesenarbeit, bleiben hier deshalb unberücksichtigt.
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Richmond geht mit ihrem bis ins Privateste ausgreifenden Ermittlungsanspruch sehr weit; aus heutiger Sicht würden viele sagen: zu weit. „Über weite Strecken liest sich die ‚Soziale Diagnose‘ wie ein Lehrbuch für angehende Kriminalkommissare“ (Müller 2009: 32).
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Das Image vom Sozialarbeiter als Möchtegern-Psychologe, Mini-Soziologe oder Halb-Jurist wäre damit nachhaltig in Frage gestellt.
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Auch die Phänomenologie könnte hier eine wichtige Rolle spielen. Als „Hermeneutik des Bewusstseinslebens“ (Husserl 1989, S. 177) böte sie sich Sozialarbeitern als Methode der Reflexion auf das eigene Bewusstsein-von-etwas und als Methode der Analyse subjektiver Lebenswelten an (vgl. Kurt 2002). Der Erfolg der lebensweltorientierten Sozialarbeit kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Phänomenologie von Thiersch weit unter ihren Möglichkeiten in die Soziale Arbeit eingeführt wurde. Meiner Meinung nach ist der Tiersche Theorietransfer durch die Gleichsetzung der Begriffe Alltagswelt und Lebenswelt schon im Ansatz schief (vgl. Grunwald und Thiersch 2011, S. 854). Es lohnte sich, den Weg von der Phänomenologie in die Soziale Arbeit noch einmal zu gehen.
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Kurt, R. (2014). Individuum – Individualismus – Individualisierung. Rationalität – Rationalismus – Rationalisierung. Verstehen – Verstehende Soziale Arbeit – Verstehende Soziale Arbeit verstehen. In: Poferl, A., Schröer, N. (eds) Wer oder was handelt?. Wissen, Kommunikation und Gesellschaft. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-02521-2_14
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